Premierminister wird Präsident, der Präsident wird Premierminister - Machtspiele auf Russisch. Putin kehrt 2012 zurück an die Spitze Russlands.
Wladimir Putin und Dmitri Medwedew sitzen in einem Restaurant in Moskau. Auf die Frage des Kellners nach ihren Wünschen sagt Putin: "Ich nehme das Steak." "Sehr wohl", sagt der Kellner, "aber was ist mit der Beilage?" "Die nimmt auch das Steak", knurrt Putin mit einem Seitenblick auf Medwedew.
Es ist nur einer von zahllosen meist despektierlichen Witzen über das bemerkenswerte Machttandem im Kreml, die derzeit in Russland kursieren. In diesem Zusammenhang ist der Begriff Tandem durchaus anschaulich: Auf einem derartigen Fahrrad können zwar beide in die Pedalen treten - doch nur einer lenkt das Ganze. Und das ist nach wie vor Putin. Und dies, obwohl der Mann aus Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, seit Mai 2008 "nur" noch Premierminister Russlands ist und der Präsident - derzeit noch Medwedew - qua Amt eine deutlich größere Machtfülle besitzt. Es ist der Präsident, der die Richtlinien der Politik gestaltet und den Premier ernennt. Dieser ist im Grunde nur der leitende Verwaltungsbeamte.
Doch Putin sitzt wie eine Spinne im Netz der russischen Macht. Und so dürfte es wohl für nur wenige der knapp 143 Millionen Russen eine große Überraschung gewesen sein, was beide Politiker am Wochenende auf dem Parteitag der Regierungspartei "Einiges Russland" - Vorsitzender ist Wladimir Putin - verkündeten. Danach soll der amtierende Premierminister am 4. März bei den Wahlen für den Posten des Staatspräsidenten kandidieren - Medwedew hat ihn als Spitzenkandidaten vorgeschlagen. Präsident Medwedew wiederum soll bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember auf den Posten des Ministerpräsidenten rücken - Putin hat ihn als Spitzenkandidaten vorgeschlagen.
"Ja - wir können das!", rief Medwedew den jubelnden Parteianhängern im besten Obama-Stil zu. Unerhörterweise gab es tatsächlich eine einsame Gegenstimme auf dem Moskauer Parteitag bezüglich dieser wenig demokratisch anmutenden Postenverschiebung. "Wo ist dieser Mensch? Wo ist dieser Dissident?", begehrte Putin sogleich zu wissen. Die sorgfältig geplante Rochade der Macht, die erkennbar bereits 2008 angelegt war, stößt nicht überall auf Begeisterung. "Das ist ein Horrorszenario", entfuhr es dem früheren Vizeregierungschef und jetzigen Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Der Oppositionelle Sergej Mironow unkte gar etwas von "Russlands Untergang".
Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow, Vater von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung), der im Westen ungleich beliebter ist als daheim, sagte: "Wenn der künftige Präsident nur am Machterhalt interessiert sein sollte, dann werden dies für Russland verlorene Jahre." Sollte Putin 2018 wiedergewählt werden, könnte er das Riesenland, das sich über neun Zeitzonen erstreckt, bis 2024 regieren. Russland benötige dringend Reformen, betonte der 80-jährige Gorbatschow, "das sollte sich der neue Staatschef zu Herzen nehmen".
Auch Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Berliner Bundestag, äußerte sich kritisch über den Posten-Coup im Kreml: "Dies zeigt, dass Russland noch ein gutes Stück von offenen, demokratischen Wettbewerben um das Präsidentenamt entfernt ist." Und die Osteuropa-Expertin der Grünen, Marieluise Beck, warnte, das Ganze verheiße für Russland "nichts Gutes".
Russland - das sei ein Rätsel, gehüllt in ein Mysterium, innerhalb eines Geheimnisses, sagte der Marineminister und spätere Kriegspremier Winston Churchill 1939 in einer Rundfunkrede. Russland, das war einst der machtvolle Kern der gewaltigen Sowjetunion, die von 1922 bis 1991 existierte und einen waffenstarrenden Gegenpol zum Westen bildete. Ihr Zerfall vor allem aufgrund eigener Widersprüche wird im Westen zumeist als Beginn einer neuen, friedvolleren Ära gewertet, von vielen Menschen in Russland jedoch als Verlust und Demütigung empfunden. Putin selber hat einmal von der "größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gesprochen - so, als habe es die bis zu 30 Millionen Toten des Stalin-Terrors nicht gegeben.
Wladimir Putin, der von 1999 bis 2000 schon einmal Ministerpräsident war und dann bis 2008 zwei damals noch vierjährige Amtszeiten als Präsident absolvierte, gab den Russen, die von der Höhe der Supermacht ins Bodenlose gestürzt waren, den Nationalstolz zurück und zwang das ins Chaos abgleitende Riesenreich wieder in ein eisernes Korsett. Die Separation der einen oder anderen Republik, die sich bereits drohend abzeichnete, wurde von ihm straff unterbunden.
Dafür schlägt Putin Dankbarkeit und Sympathie großer Teile der russischen Bevölkerung entgegen - während der Friedensnobelpreisträger Gorbatschow als Vernichter der mächtigen Sowjetunion betrachtet wird. Geschickt instrumentalisierte Putin den Energiehunger Europas für den Wiederaufstieg seines rohstoffreichen Landes. Putin habe demokratische Institutionen zerstört und ein schlimmeres Machtmonopol geschaffen, als es selbst die Kommunistische Partei je gehabt habe, sagte Gorbatschow jetzt. Das mag ein wenig übertrieben sein, aber tatsächlich hat Putin gewisse Freiheiten der Föderativsubjekte - also der Republiken, Bezirke und Gebiete -, die sein Amtsvorgänger Boris Jelzin ihnen eingeräumt hatte, wieder kassiert.
Putin favorisiert eine "Machtvertikale" in der russischen Innenpolitik und sorgte zum Beispiel 2004 dafür, dass von Stund an der Präsident die Gouverneure vorschlägt. Die Regionalparlamente können diese Kandidaten nur noch abnicken. Die von Putin handverlesenen Gouverneure bestimmen wiederum jene Leute, die als Vertreter in den Föderationsrat entsandt werden. Er ist neben der Staatsduma die zweite Kammer des russischen Parlaments. Ganz grob kann man die Duma mit dem Bundestag und den Föderationsrat mit dem Bundesrat vergleichen.
Der russische Präsident ist in punkto Machtfülle mit dem französischen Staatsoberhaupt vergleichbar, in beiden Ländern sitzen die Premierminister im Machtkonzert nur in der zweiten Reihe. Putin hat in seiner Zeit als Präsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte die erhebliche Macht seines Amtes noch wesentlich verstärkt, nur war er durch die verfassungsgemäße Begrenzung auf zwei Amtszeiten gezwungen, eine schöpferische Pause einzulegen. Nun verbietet es die russische Verfassung aber nicht, nach einem Intermezzo erneut anzutreten und zwei weitere Amtszeiten zu absolvieren.
Für diesen Trick benötigte Putin sozusagen die Mithilfe eines Mannes aus dem Publikum. Er fand ihn in seinem Vertrauten Dmitri Medwedew, ebenfalls Mitglied der "Petersburger Mafia", wie die Putin-Seilschaft genannt wird. Beide arbeiteten bereits in der Stadtverwaltung von Leningrad zusammen; Putin holte Medwedew dann als Leiter des Präsidialamtes nach Moskau. Medwedew zeigte sich als Präsident gegenüber dem Ausland wesentlich konzilianter als der oft polternde Putin und ließ Bereitschaft zu innenpolitischen Reformen erkennen.
Eine Zeit lang sah es gar so aus, als wolle und könne er sich gegen seinen Übervater emanzipieren und Russland auf einen liberaleren Kurs bringen. Moskau stellte sich für 2012 bereits auf einen erbitterten Machtkampf ein. Doch dann schlaffte Medwedew ab, und mit der Ankündigung vom Parteitag dürfte endgültig klar sein, dass er tatsächlich kaum mehr als ein loyaler Erfüllungsgehilfe Putins ist. Die "Tandemokratie" geht in Russland weiter.
Der frühere und wohl auch künftige Präsident Putin ist anders als der zierliche Medwedew ein in jeder Hinsicht robuster Machtmensch. Die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei hatte das Arbeiterkind Wladimir Wladimirowitsch Putin einst erst nach langem Zögern aufgenommen, weil es sich ständig prügelte, wie berichtet wird.
Das tut Putin, der am 7. Oktober 59 Jahre alt wird, bis heute - wenn auch inzwischen in sportlich geregelten Bahnen. Er brachte es im Judo bis zum schwarzen Gürtel und zum Leningrader Stadtmeister. Nebenher betrieb er noch Boxen und Sambo, eine dem Ringen verwandte kraftbetonte Kampfsportart. Bis heute posiert Putin gern für die Presse in Macho-Posen - auch mit freiem Oberkörper, beim Reiten, Motorradfahren, Fischen, Felsenklettern oder anderen Outdoor-Aktivitäten.
Putin studierte Jura, wurde Offizier im sowjetischen Geheimdienst KGB, wo er es bis zum Oberstleutnant brachte. Von 1985 bis 1990 war er als Angehöriger der Ersten Hauptabteilung (Auslandsspionage) in Dresden stationiert. Er spricht Deutsch und ist mit der Deutschlehrerein Ludmilla verheiratet.
Wenn man sich vor Augen hält, dass zu Putins Aufgaben auch das Unterdrücken von Dissidenten-Tätigkeiten gehörte, dann fällt es schwer, sich dem Urteil des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder anzuschließen, Putin sei "ein lupenreiner Demokrat".
Die berühmteste kritische Journalistin Russlands, Anna Politkowskaja, hatte im Jahre 2005 in ihrem Buch "Putins Russland" geschrieben, bei dessen System handle es sich um ein "Konglomerat aus mafiosen Unternehmern, den Rechtsschutzorganen, der Justiz und der Staatsmacht". Bei einem Besuch des Hamburger Abendblatts nannte Politkowskaja den Präsidenten einen "Despoten". Sie wurde im Oktober 2006 in Moskau ermordet.
Unter Putin wurden Presse- und Redefreiheit wieder eingeschränkt; es gibt nur noch wenige unabhängige, regierungskritische Medien in Russland. Alle drei landesweit aktiven Fernsehsender sind unter staatlicher Kontrolle, beim Radio sieht es ähnlich aus.
Entsprechend groß ist die Sorge, ein Präsident Putin könne Russland zunehmend autoritär beherrschen und eine notwendige Öffnung blockieren.
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"Putin ist ein Vertreter einer konservativen und technologischen Modernisierung", sagte der Regierungskoordinator für die deutsch-russischen Beziehungen, Andreas Schockenhoff, am Wochenende. Russland brauche tief greifende Erneuerungen und eine breitere Beteiligung der Bevölkerung, doch der angekündigte Rollentausch sei nicht gerade "ein Signal der Ermutigung für umfangreiche gesellschaftliche Reformen". Sowohl in der russischen Führung als auch in der Bevölkerung werde nicht erkannt, dass der Erhalt des Status quo in Wahrheit Stagnation bedeute, sagte der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende. "So wird Russland seine Position in der Welt nicht behaupten können." Schon jetzt gebe es einen "dramatischen brain-drain" - die Auswanderung kluger Köpfe also - und einen ebenso dramatischen Kapitalabfluss aus Russland. Die russische Zeitung "Kommersant" meinte am Sonntag: "Putin hat jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder zieht er aus Gründen des Machterhalts die Schrauben an. Oder _ falls er politisch überleben will - er beschäftigt sich mit einer wirklichen Transformation."