Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi hat nahe der Grenze Kontrollpunkte errichten lassen, um Fotos zu beschlagnahmen.
Hamburg. Wer Libyen verlassen will, muss an der Grenze sein Mobiltelefon und Speicherkarten von Fotokameras abgeben. Staatschef Muammar al-Gaddafi will so anscheinend sicherstellen, dass keine Fotobeweise für das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten im Ausland auftauchen. Die Grenze zu Tunesien werde durch libysche Sicherheitskräfte und „afrikanische Söldner“ gesichert, sagte ein Zeuge. Auf der 250 Kilometer langen Strecke von Tripolis bis zur tunesischen Grenze soll es inzwischen rund 30 Kontrollpunkte geben.
In der Stadt Sawija, die auf dem Weg zur Grenze liegt, hätten regierungstreue Soldaten ein Blutbad angerichtet, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sicherheitskräfte würden auf Demonstranten feuern. Ein Ägypter berichtete, dass Soldaten von Haus zu Haus gegangen seien und auf Eingangstüren gefeuert hätten, damit die Menschen ihre Häuser nicht verließen. Viele Bewohner hätten keine Lebensmittelvorräte mehr.
Präsident Barack Obama hatte am Freitag, nachdem der letzte US-Bürger das Land verlassen hatte, Sanktionen gegen Libyen angeordnet. Das Vermögen und der Immobilienbesitz des Staatschefs Muammar al Gaddafi und vier seiner Söhne wurde in der Nacht zum Sonnabend mit sofortiger Wirkung eingefroren. Die libysche Führungsschicht soll auf ausländischen Konten Milliardenbeträge deponiert haben, die aus den Ölgeschäften des Landes stammen.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen will an diesem Sonnabend in einer Sondersitzung über eine Resolution zu Strafmaßnahmen gegen Libyen beraten. Der libysche Botschafter in New York, Abdurrahman Mohammed Schalgham, hat sich schon von Gaddafi losgesagt.
Mit brutaler Gewalt haben Truppen und Milizen des bedrängten libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi am Freitag versucht, die erste große Demonstration der Regimegegner in Tripolis aufzulösen. Nach dem Freitagsgebet waren Tausende aus den Moscheen im Zentrum der Hauptstadt zum Grünen Platz geströmt. Gaddafi-treue Truppen feuerten nach Augenzeugenberichten in die Menge. Viele Demonstranten flohen in Panik. Wie viele Todesopfer es unter ihnen gab, war unklar; es sollen aber mindestens vier gewesen sein. Kurz darauf ist Gaddafi erstmals seit dem Ausbruch der Unruhen öffentlich mit Anhängern aufgetreten. "Wir können jeden Angriff abwehren und das Volk bewaffnen, wenn nötig", sagte er auf dem Grünen Platz in Tripolis. Dort hatten sich bislang die Regimegegner versammelt. "Wir werden jeden ausländischen Versuch erfolgreich bekämpfen, wie wir ihnen schon früher Niederlagen beigebracht haben." Er stand auf einer historischen Mauer und trug augenscheinlich die gleiche Mütze wie schon bei einem Auftritt vor einigen Tagen.
Die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navanethem "Navi" Pillay, sagte auf einer Krisensitzung des Uno-Menschenrechtsrates in Genf, die Niederschlagung des Volksaufstandes in Libyen eskaliere "in alarmierender Weise". Die Staatengemeinschaft müsse "energisch einschreiten", meinte die südafrikanische Juristin. Der libysche Vertreter in dem Gremium sagte sich auf der Sitzung von Gaddafi los. Aus Protest gegen das Blutvergießen erklärten auch Libyens Generalstaatsanwalt Abdul-Rahman al-Abbar sowie die Botschafter bei der Unesco und in Frankreich ihren Rücktritt. Die Uno geht inzwischen von mehreren Tausend Toten in Libyen aus. 22 000 Menschen sind bereits in das benachbarte Tunesien geflohen. Die Truppen Gaddafis verüben nach Informationen der Vereinten Nationen Massaker, folterten Demonstranten und sperrten Regimegegner willkürlich ein. Die Ölraffinerie Ras Lanuf stellte angesichts der Kämpfe ihren Betrieb ein.
Während in Tripolis, Bengasi, Misrata und anderen Städten weiter gekämpft wurde, erklärte Gaddafis Sohn Saif al-Islam im Sender CNN Turk, seine Familie werde in Libyen "leben und sterben". Im Übrigen werde Gaddafi nicht zulassen, dass "eine Bande von Terroristen" an die Macht komme. Die libyschen Behörden würden schon bald die Kontrolle über den abtrünnigenOsten zurückgewinnen. Zugleich versprach Saif al-Islam Reformen. Die Rückeroberung des Ostens jedoch dürfte nicht einfach für Gaddafi werden. Die Region Cyrenaika mit der zweitgrößten libyschen Stadt Bengasi - traditionell ein Gegenpol zu Tripolitanien mit der Hauptstadt Tripolis - scheint fest in der Hand der Aufständischen zu sein, denen sich auch Teile der Armee angeschlossen haben.
Ein angekündigter "Marsch der Millionen" aus allen befreiten Städten auf Tripolis blieb am Freitag jedoch aus. Nur rund 1000 Unbewaffnete machten sich auf den Weg in die Hauptstadt. In Bengasi rechnete die Oppositionsbewegung dafür mit einem bevorstehenden Gegenangriff der Regimeanhänger. "Wir erwarten jeden Moment eine Attacke", sagte ein abtrünniger Oberst.
Gaddafi verfügt offenbar noch über vier bestens ausgerüstete Elitebrigaden, darunter die von seinem Sohn Khamis befehligte 32. Brigade. In der Stadt Addschabija im Osten Libyens schlossen sich Soldaten und Polizisten den Rebellen an; in Suara überließen Gaddafis Truppen nach heftigen Kämpfen die Stadt den Regimegegnern.
Libyen hat bei einer Bevölkerung von 6,3 Millionen Menschen mehr als 100 000 Mann unter Waffen. Etwas mehr als 70 000 Soldaten zählen zu den regulären Streitkräften, davon rund 45 000 zur Armee, 18 000 zur Luftwaffe und 8000 zur Marine. Hinzu kommen noch rund 3000 Mann der Gaddafi treu ergebenen und schwer bewaffneten "Revolutionsgarde" und 40 000 "Volksmilizionäre". Der Diktator hat ferner eine "Islamische Legion" aus rund 2500 Söldnern geschaffen, die zumeist aus den armen Staaten südlich der Sahel-Zone kommen. Sie sind den Regimegegnern wegen ihrer Brutalität und Skrupellosigkeit besonders verhasst und kämpfen daher nicht nur für Gaddafi, sondern auch um ihr Leben.
Im Gegensatz etwa zu Ägypten sind die Streitkräfte Libyens aber keine eigenständige Säule des Staates. Über seine Söhne, die er als Kommandeure installiert hat, haben etliche Einheiten eher den Charakter einer persönlichen Schutzgarde für den Diktator.
Libyens Streitkräfte verfügen über moderne Waffen; außer rund 374 Kampfflugzeugen und Bombern haben sie mehr als 2200 Kampfpanzer, fast 2500 Artilleriegeschütze und nahezu 700 Raketen unterschiedlicher Reichweiten. Die Marine hat zwei Fregatten, eine Korvette und zwei U-Boote.