Italien warnt vor humanitärer Krise und fordert Hilfe. Innenminister de Maizière widerspricht: Flüchtlinge nicht herbeireden.
Brüssel/Berlin. Italien fürchtet wegen der Eskalation der Gewalt in Libyen eine beispiellose Flüchtlingswelle. "Wir gehen von mindestens einer Million Flüchtlingen aus", sagte der italienische Innenminister Roberto Maroni bei einem Treffen der EU-Ressortchefs in Brüssel. Eindringlich forderte er die anderen EU-Staaten zur Unterstützung Italiens auf. "Wir stehen vor einer humanitären Notlage und ich fordere Europa auf, alle notwendigen Maßnahmen für eine katastrophale humanitäre Krise zu ergreifen." Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) lehnte die Forderung umgehend ab und warnte vor Panikmache.
"Es gibt keine großen Flüchtlingsströme bisher, wir sollten sie auch nicht herbeireden", sagte de Maizière im ZDF. Bislang seien auf der italienischen Insel Lampedusa rund 6000 Flüchtlinge angekommen, die großteils aus Tunesien stammten. "Italien ist gefordert, aber bei Weitem lange noch nicht überfordert." Im letzten Jahr habe Deutschland rund 40 000 Asylbewerber aufgenommen, Schweden 30 000, Belgien 20 000, Italien jedoch nur 7000, hob der deutsche Minister hervor.
De Maizière warnte davor, "Horrorzahlen an die Wand zu malen" und Flüchtlinge zu ermuntern, nach Europa zu kommen. Vielmehr müsse dafür gesorgt werden, dass Aufbauhilfe für Entwicklungen vor Ort geleistet werde. Zugleich erklärte er: "Wir können auch nicht alle armen Afrikaner nach Europa lassen, nur weil sie im Moment in Libyen vielleicht keine Arbeit finden." Flüchtlingspolitik stehe immer erst am Ende einer Politik, die nicht erfolgreich gewesen sei. Schweden und Österreich unterstützten die Blockadehaltung de Maizières.
Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth hat dagegen de Maizière scharf kritisiert. Dem Hamburger Abendblatt sagte Roth: "Es ist nicht zu akzeptieren, wenn der Christdemokrat Thomas de Maizière nach dem Motto 'Jetzt sind mal die anderen dran' jegliche Solidarität mit den Menschen in höchster Not und mit den südlichen europäischen Staaten brüsk ablehnt und das Flüchtlingsproblem für nicht so zentral ansieht."
Die Flüchtlingspolitik der europäischen Innenminister nannte die Grünen-Chefin "zynisch, blind und kontraproduktiv". Sie betonte: "Ausgerechnet ein Machthaber wie Gaddafi, vor dessen brutaler Gewalt gerade Hunderttausende Menschen flüchten, war von der EU auserkoren, Flüchtlinge abzuwehren." Während in Notaktionen EU-Bürgern beim fluchtartigen Verlassen des Landes geholfen werde, "sollen die Bootsflüchtlinge aus der Region zurückgewiesen und abgedrängt werden", kritisierte Roth. Statt mit Gaddafi den Bock zum Gärtner zu machen, müssten die EU-Innenminister sich endlich ihrer Verantwortung stellen und das Thema Flüchtlinge aus Nordafrika als gesamteuropäische Aufgabe und humanitäre Pflicht begreifen, forderte Roth.
In einer Aktuellen Stunde im Bundestag zum Thema Libyen unterstützte Unions-Fraktionsvize Andreas Schockenhoff (CDU) die Position de Maizières. "Wir sollten keine Flüchtlingsströme organisieren, sondern Aufbauhilfe leisten und Lebensperspektiven in den Heimatländern bieten", sagte er. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rolf Mützenich, plädierte dafür, den Flüchtlingen übergangsweise einen Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen. Grundsätzlich gelte aber: "Sie demonstrieren doch nicht, um fliehen zu können, sondern sie wollen in ihren Ländern bleiben."
Parteiübergreifend einig war sich das Parlament, rasch Sanktionen gegen das libysche Regime zu beschließen. Wenn die Gewaltexzesse nicht aufhörten, führe daran kein Weg vorbei, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer (FDP). Mit Blick auf die Zurückhaltung Italiens bei den Strafmaßnahmen sagte er: "Die EU darf ihre eigenen Werte nicht verraten."
Die EU-Kommissarin für Internationale Zusammenarbeit und Humanitäre Hilfe, Kristalina Georgieva, warnte abermals vor einer "humanitären Katastrophe" in Libyen. "Ich bin in großer Sorge, dass die Entwicklungen in Libyen und in anderen nordafrikanischen Ländern zu einer humanitären Katastrophe führen können", sagte sie der "Welt" und fügte hinzu: "Die EU muss darauf vorbereitet sein."