Die oppositionelle Muslimbruderschaft, das Militär oder zivile Führungspersönlichkeiten: Wer lenkt in Zukunft das Schicksal Ägyptens?
Hamburg. Drei Jahrzehnte lang hat Ägyptens Staatspräsident Husni Mubarak systematisch sein Regime auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen installiert und jegliche demokratische, westliche orientierte Opposition zertrümmert. Zwar gibt es eine legale Opposition, aber sie besteht aus künstlich gezüchteten Ablegern der Staatspartei NDP und ist ihrem Charakter nach ebenso oppositionell wie es vor dem Fall der Berliner Mauer die "Blockflöten" in der DDR waren.
Die echten Regimegegner saßen zumeist im Gefängnis und hatten keine Chance auf politische Teilhabe.
Die Staaten des Westens, allen voran die USA, haben das System Mubarak jahrzehntelang nach Kräften stabilisiert - zum einen, weil er mit Israel Frieden schloss, zum anderen aus Angst vor einer Machtübernahme der Muslimbruderschaft. Ein ägyptischer Iran am Mittelmeer war für den Westen und Israel eine Albtraumvision.
Die Volksrevolution am Nil hat für die Regierungen im Westen nun die bange Frage aufgeworfen, wer eigentlich das Machtvakuum füllen wird, wenn Mubarak stürzt. Ganz grob lassen sich jene Kräfte, die wohl in Zukunft Ägyptens Schicksal bestimmen werden, in drei Gruppen aufteilen: das Militär, die Muslimbruderschaft sowie die weltlich-zivile Opposition.
Ohne Frage wird die ägyptische Armee, mit rund 450 000 Soldaten die stärkste der arabischen Welt, ausgerüstet, trainiert und finanziert vor allem von den USA, auch weiterhin das eiserne Korsett des Staates Ägypten bilden. Seit dem Sturz König Faruks 1952 waren alle politischen Führer Ägyptens Generale - von Mohammed Naguib über Gamal abdel Nasser zu Anwar al-Sadat und Husni Mubarak.
Doch Ägyptens Militär, ganz im Gegensatz zu den übrigen als ultrakorrupt und brutal geltenden Sicherheitskräften, angesehen und respektiert im Volk, ist keineswegs mehr eine geschlossene Einheit. Wie die "New York Times" berichtete, gibt es im Offizierskorps einen tiefen Riss. Ein Teil halte noch zu Mubarak, während eine andere Gruppe um Verteidigungsminister und Generalfeldmarschall Mohammed Tantawi die Loyalität zu Mubarak zugunsten des eigenen Überlebens geopfert habe.
Sie stützen offenbar den langjährigen Geheimdienstchef und jetzigen Vizepräsidenten Omar Suleiman, 74, der nach Ansicht von einigen Analysten bereits Mubaraks Position im Machtgefüge Ägyptens übernommen hat. Für eine Übergangsphase könnten Suleiman, der 85-jährige Tantawi und Ministerpräsident Ahmed Schafik, 69, ehemals Befehlshaber der ägyptischen Luftstreitkräfte, die Schlüsselfiguren sein, hieß es weiter.
Ragui Assad, Ägypter und Professor an der Universität von Minnesota, sagte, das Militär als rationale Institution werde eine "kaltblütige Entscheidung" fällen und Mubarak von der Macht verdrängen, da er ihren Interessen nicht länger nützlich sein könne.
Robert Springborg, Professor im kalifornischen Monterey und Experte für das ägyptische Militär, meinte allerdings, die Armee kultiviere zwar ihr Image als Retter der Nation, habe aber vermutlich gewalttätige Angriffe von Mubarak-Anhängern auf die Demonstranten ermutigt und sogar organisiert, um die eigene Position zu stärken.
Die zweite starke Kraft im Lande ist die Muslimbruderschaft, 1928 gegründet von dem ägyptischen Volksschullehrer Hassan al-Banna. Sie ist die Mutter der meisten radikalislamischen Organisationen im Nahen Osten. Offiziell in Ägypten immer noch verboten, durchdringt sie aber wie die Hamas im Gazastreifen - die ebenfalls direkt von ihr abstammt - große Teile der Gesellschaft.
Die Muslimbruderschaft, die mindestens drei Millionen Mitglieder haben soll, springt mithilfe für die einfachen Menschen überall dort ein, wo der Staat versagt. Ursprünglich war die Organisation rein islamistisch geprägt - heute stehen jedoch wesentliche Teile der Bruderschaft für eine gemäßigt-pragmatische Haltung und für einen Gewaltverzicht. Die Frage ist aber, welche Strömung sich am Ende durchsetzen wird, wenn die Muslimbruderschaft, deren Wählerpotenzial derzeit auf bis zu 30 Prozent geschätzt wird, erst einmal an der Regierung beteiligt sein wird.
Der große Verlierer der Umwälzung in Ägypten dürfte dann Israel sein - denn die Bruderschaft will Mubaraks Friedensvertrag mit Jerusalem am liebsten sofort aufkündigen oder zumindest nur einen äußerst frostigen Frieden mit Israel halten.
Das weltlich-zivile Lager ist stark zersplittert. Zwei Figuren ragen heraus: Mohammed al-Baradei und Amr Mussa. Al-Baradei, der ehemalige Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, jener Mann, der US-Präsident George W. Bush in Sachen irakische Massenvernichtungswaffen mutig die Stirn bot, wird vom Westen sehr geschätzt. Doch er hat die letzten Jahrzehnte im Ausland gelebt und hat weder beim ägyptischen Volk noch beim Militär sonderlichen Rückhalt. Al-Baradei ist als Einzelakteur im ägyptischen Machtpoker ein schwer einzuschätzender Joker.
Amr Mussa dagegen, der frühere ägyptische Außenminister und scheidende Chef der Arabischen Liga, ist rasend beliebt im Volk - obwohl er doch ein Mann des Systems ist. Das liegt vor allem daran, dass der 74-Jährige ein erbitterter Gegner einer "übereilten" Aussöhnung mit Israel ist. Mussa kritisiert gern auch die USA, deren grundlegende Haltung pro Israel und pro Mubarak nie gut ankam im ägyptischen Volk. Sollte er die Militärs hinter seine Kandidatur bringen und bei Wahlen antreten, hätte Amr Mussa überwältigend gute Chancen auf einen Sieg. Auf dem Tahrir-Platz wurden schon Rufe laut: "Los, Mussa - übernimm endlich!"