Weitere Schusswechsel in der Hauptstadt. Die ägyptische Armee greift in Auseinandersetzungen ein. Archäologen wollen bleiben.
Auch am Donnerstag ist es im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt Kairo wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Gegner und Anhänger von Staatspräsident Husni Mubarak lieferten sich erneut Straßenschlachten und bewarfen sich am Tahrir-Platz mit Steinen. Auch nach Einbruch der Dunkelheit gingen die Ausschreitungen weiter.
Die Bundesregierung warnt angesichts der gewaltsamen Unruhen vor Reisen nach Kairo sowie nach Alexandria und Suez. Das Auswärtige Amt gab am Donnerstagabend eine sogenannte „Teilreisewarnung“ für die drei Städte aus. Von Reisen in die übrigen Landesteilen einschließlich der Urlaubsgebiete am Roten Meer wird demnach weiterhin „dringend abgeraten“.
Trotz der Eskalation der Gewalt in Ägypten wollen zehn deutsche Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) das Land nach Informationen des Hamburger Abendblatts (Freitag-Ausgabe) vorerst nicht verlassen. Fünf ihrer sechs Grabungsstätten im Land haben die Wissenschaftler allerdings räumen müssen, die Archäologen und Ägyptologen wurden in der DAI-Zentrale in Kairo zusammengezogen. Allein das DAI-Grabungshaus in Luxor ist noch mit einem deutschen Wissenschaftler besetzt, weil er derzeit nicht in die Hauptstadt reisen kann. In der Grabungsstätte Dassur bei Sakkara habe es sogar Plünderungen gegeben, sagte DAI-Sprecherin Nicole Kehrer dem Hamburger Abendblatt.
Ausreisen wollen die deutschen Forscher nur dann, wenn dies von der Botschaft ausdrücklich angeordnet wird. Seine Stipendiaten und Gäste sowie die Familienangehörigen der Wissenschaftler sind nach Angaben des DAI dagegen außer Landes gebracht worden.
Nach schweren Feuergefechten am Donnerstagnachmittag wurde mindestens ein Mensch davongetragen. Aus mehreren Teilen der Stadt und aus Vorstädten wurden Brände gemeldet. So stand ein großer Supermarkt in der Nähe der Vorstadt Scheich Sajed in Flammen, wie aus Sicherheitskreisen verlautete. Plünderer drangen in das Gebäude ein. Im Zentrum Kairos brannte ein Gebäude neben einem Luxushotel in Nilnähe. Aus dem Bezirk Schubra nördlich der Innenstadt wurden ebenfalls Brände gemeldet.
Die Gegner Mubaraks schienen im Laufe des Tages wieder die Oberhand zu gewinnen. Die Streitkräfte, die am Vormittag zwischen den verfeindeten Lagern in Stellung gegangen waren, schritten zunächst nicht ein. Die Kämpfe auf und um den Platz der Befreiung herum haben bislang mindestens acht Menschen das Leben gekostet, Hunderte weitere sind verletzt worden.
Gruppen von Mubarak-Anhängern zogen durch Seitenstraßen, warfen Steine auf die regierungsfeindlichen Demonstranten und griffen Autos an, um sie davon abzuhalten, das feindliche Lager mit Vorräten zu versorgen. „Ihr auf dem Tahrir(-Platz) seid der Grund, weshalb wir kein normales Leben führen können!“, schrie ein Mubarak-Sympathisant.
Gegner des ägyptischen Machthabers positionierten sich auf Dächern und Balkonen, um unten stehende Demonstranten vor anrückenden Mubarak-Anhängern zu warnen. Ein Wache stehender Mann ähnelte einem Fluglotsen auf einer Rollbahn, als er mit seinen Armen Zeichen machte. Er wollte mit Steinen bewaffneten Demonstranten auf der Straße Anweisungen erteilen, damit sie einen Angriff von Mubarak-Anhängern abwehren konnten.
Soldaten beziehen Position zwischen verfeindeten Lager
Am Vormittag räumten vier Panzer eine Überführung am Tahrir-Platz, von der Mubarak-Anhänger Steine und Brandsätze auf Demonstranten geschleudert hatten. Soldaten bezogen Position zwischen den verfeindeten Lagern und gaben Warnschüsse ab. Hunderte weitere Soldaten bewegten sich auf die Kampfzone am Nordrand des Platzes, der seit Tagen der zentrale Versammlungsort der Opposition ist, in der Nähe des Ägyptischen Museums zu.
Ministerpräsident Ahmed Schafik entschuldigte sich am Donnerstag für Angriffe seitens der Anhänger Mubaraks auf dessen Gegner und sprach von einem „eklatanten Fehler“. Er kündigte die Aufnahme von Ermittlungen. Demonstranten beschuldigen die Regierung Mubarak, bezahlte Schlägertruppen und Polizisten in Zivil auf die Protestierenden angesetzt zu haben.
Unterdessen verhängten die ägyptischen Behörden erste Sanktionen gegen frühere Mitglieder von Mubaraks Regierung. Der ägyptische Generalstaatsanwalt sprach Ausreiseverbote gegen drei ehemalige Minister aus und fror ihre Bankkonten ein. Unter den drei Politikern ist auch der für die Polizei verantwortliche Innenminister. Die gleichen Sanktionen wurden auch gegen einen Funktionär der Regierungspartei NDP verhängt.
Entgegen bisheriger Vermutungen will sich der Sohn des ägyptischen Präsidenten, Gamal Mubarak, offenbar nicht um die Nachfolge seines Vaters im Amt bemühen. Das berichtete das staatliche ägyptische Fernsehen unter Berufung auf Vizepräsident Omar Suleiman. Dieser sagte zu Journalisten, er habe die Muslimbruderschaft zu Verhandlungen mit der Regierung eingeladen. Die Organisation zögere noch, das Angebot der Verhandlungen sei aber eine „wertvolle Gelegenheit“ für sie, sagte Suleiman.
Vereinte Nationen ziehen Mitarbeiter ab
Die Vereinten Nationen kündigten an, rund 350 ihrer derzeit in Ägypten befindlichen Mitarbeiter auf der Mittelmeerinsel Zypern in Sicherheit zu bringen. Zwei Chartermaschinen der UN brächten die Mitarbeiter am Donnerstag nach Zypern, teilte ein Sprecher der UN-Friedensmission in Zypern mit. Die USA teilten mit, in drei Tagen bereits 1.900 US-Bürger aus Ägypten ausgeflogen zu haben. Ein Flugzeug sollte am Donnerstag rund 230 US-Amerikaner nach Frankfurt bringen. Insgesamt hatten sich am Donnerstag rund 5.000 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten auf dem Flughafen von Kairo versammelt, um auf einen Flug aus dem Land zu warten. Nach Beginn des Ausgehverbots um 17.00 Uhr (Ortszeit) blieben nur noch rund 700 von ihnen zurück.
Die tagelangen Proteste in Ägypten haben die wichtige Tourismusindustrie des Landes schwer in Mitleidenschaft gezogen. Vizepräsident Suleiman sagte, in den vergangenen neun Tagen hätten eine Million ausländische Touristen das Land verlassen. Er bezifferte den Einnahmeausfall auf eine Milliarde Dollar. Die TUI-Reisetochter TUI Travel teilte mit, die Unruhen in Ägypten und Tunesien würden das Unternehmen bis zu 35 Millionen Euro Gewinn kosten.
Dutzende Journalisten festgenommen
Für ausländische Beobachter wurde die Lage am Tahrir-Platz zunehmend heikel. Mehrere ausländische Fotografen wurden nach eigenen Angaben am Vormittag von Anhängern Mubaraks angegriffen. Ein griechischer Fotograf erlitt eine Stichverletzung am Bein, ein weiterer wurde verprügelt.
Dutzende ausländische Journalisten wurden festgenommen, darunter zwei der US-Zeitung „The Washington Post“. Die zwei Frauen seien mehreren Zeugenberichten zufolge vom ägyptischen Innenministerium in Gewahrsam genommen worden, berichtete ein Redakteur der Zeitung auf deren Website. Die „New York Times“ berichtete, zwei ihrer Reporter seien am Donnerstag freigelassen worden, nachdem sie die Nacht über in Kairo festgehalten worden seien.
Eine am Mittwoch vom ägyptischen Geheimdienst festgenommene ZDF-Mitarbeiterin kam ebenfalls am Donnerstag wieder frei. ZDF-Chefredakteur Peter Frey sagte der Nachrichtenagentur dapd, die Frau sei 20 Stunden in einem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten worden und werde nun in Sicherheit gebracht.
Das Weiße Haus verurteilte die „systematischen“ Angriffe auf Journalisten in Ägypten. Regierungssprecher Robert Gibbs verlangte außerdem die Freilassung aller festgenommenen Journalisten. Die ägyptische Regierung forderte er erneut auf, sicherzustellen, dass friedliche Demonstrationen stattfinden könnten. Es sei an der Zeit für Veränderungen, sagte er. Eine direkte Rücktrittsforderung an Ägyptens Präsident Husni Mubarak sprach er aber nicht aus.
Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien zeigten sich höchst besorgt über die Eskalation der Gewalt in Ägypten. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Staatspräsident Nikolas Sarkozy, Premierminister David Cameron sowie die Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und José Luis Rodriguez Zapatero veröffentlichten am Donnerstag eine gemeinsame Erklärung, in der sie das Recht auf Versammlungsfreiheit für alle Ägypter einforderten. Merkel forderte Mubarak in ungewöhnlich scharfer Form zum Handeln auf. Es sei jetzt „ganz wichtig, dass in Ägypten der politische Dialog beginnt“, sagte Merkel bei den deutsch-spanischen Regierungskonsultationen in Madrid. Niemand dürfe glauben, dass es ein „Weiter so“ in Ägypten geben könne. Vielmehr müsse ein Neuanfang her.