EU-Gipfel klammert drängende Probleme aus und konzentriert sich auf Wachstum. Serbien wurde der Kandidatenstatus verliehen.
Brüssel. Die Krise sollte draußen vor der Tür bleiben. Die 27 Staats- oder Regierungschefs der Europäischen Union wollten bei ihrem Frühjahrsgipfel alles, nur nicht über Griechenlandhilfe und Sparmaßnahmen reden, und auch über die Rettungsschirme nicht. Auf der Tagesordnung stattdessen: eine unumstrittene Wiederwahl, die des Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, der künftig auch die Gipfel der Euro-Zone leiten soll. Weiter wollen die Gipfelteilnehmer "Europa auf den Weg des Wachstums zurückführen" und die Armut verringern, wie im Entwurf der Schlussfolgerungen zu lesen ist. Plattitüden der Bürokratie statt Rettungsmarathon: "Wir haben weit weniger Drama als bei den letzten Gipfeln", sagte Kommissionspräsident José Manuel Barroso vorher. "Das schadet niemandem." Die Frage ist aber: Hilft es jemandem?
Denn die Krise ist da, und sie lässt sich nur mit Mühe zudecken mit dem Reden von Wachstum und von Voneinander-lernen-Wollen. So sitzt Lukas Papademos mitten unter den Regierungschefs, der griechische Premierminister, der auf das zweite Hilfspaket für sein Land wartet. So wurde just gestern bekannt, dass die Arbeitslosenquote in der Euro-Zone im Januar auf 10,7 Prozent gestiegen ist, der höchste Wert seit Einführung des Euro. Und so tauchte ein Loch im Budget eines bisherigen Musterlandes auf: Ohne harte Ausgabenkürzungen werde das Haushaltsdefizit der Niederlande in jedem der kommenden drei Jahre die Grenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung überschreiten, sagte das staatliche Forschungsinstitut CPB voraus. Aber die europäische Politik freut sich auf die verloren geglaubte Routine, und ihr Präsident Van Rompuy tat ihr den Gefallen.
Die Streitpunkte wurden zuvor erledigt. Den Finanzministern blieb es überlassen, die griechischen Fortschritte zu loben und über die Freigabe erster Mittel aus dem zweiten Hilfsprogramm zu entscheiden. Sogar der Streit um Serbiens EU-Kandidatenstatus wurde vorab beigelegt: Der rumänische Präsident Traian Basescu, der sich zuvor gesperrt hatte, lenkte am Nachmittag in der Spitzenrunde seiner konservativen Parteifreunde ein. In der Abschlusserklärung am Abend öffnete die Europäische Union Serbien dann knapp zwei Jahrzehnte nach der Belagerung Sarajevos die Tür und verlieh dem Balkanstaat offiziell den Kandidatenstatus. Damit steht aber noch lange nicht fest, wann Belgrad am EU-Tisch Platz nehmen kann. Serbien hatte zuvor zwei Abkommen mit seiner früheren Provinz Kosovo unterzeichnet und sich damit den Weg geebnet.
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"Heute findet zum ersten Mal seit zwei Jahren ein ,normaler Gipfel' statt", befand Europaparlamentspräsident Martin Schulz. Das sei ein "Durchbruch": "Gerade weil es uns in die Lage versetzt, mit der gebotenen Ruhe und Konzentration die ja weiterhin bestehenden Probleme anzugehen."
Gipfelzeit ist diesmal Hausaufgabenzeit. Bis April müssen die 23 EU-Staaten, die sich im vergangenen Jahr dem sogenannten Euro-Plus-Pakt anschlossen, die Reformpläne für ihre Länder präsentieren. Jetzt in Brüssel will Van Rompuy ihnen zeigen, wo ihre Defizite liegen. Sie nehmen sich allerlei Strukturreformen vor - und wollen dabei von den Besten lernen, so haben sie es sich beim Gipfel vor vier Wochen vorgenommen. Wer hat seinen Staatshaushalt am besten im Griff? Wer gibt am meisten für wachstumsfördernde Forschung aus, wessen Budget belasten Rentenzahlungen am meisten?
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Der Ratspräsident hat dazu eine Tischvorlage vorbereiten lassen, die fast jedem Land seine Reformdefizite aufzeigt. So ist Deutschland nach dem Papier, das der "Welt" vorliegt, gut darin, die Schattenwirtschaft zu bekämpfen. Süd- und Osteuropa hingegen könnten "in hohem Maße profitieren" davon, den Druck auf Schwarzarbeiter und ihre Arbeitgeber zu verschärfen. Auch die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften untersucht der Bericht. Die Lohnstückkosten etwa seien in Belgien, Italien, Irland, Spanien und Portugal seit zehn Jahren um über 20 Prozent gestiegen - ein klarer Hinweis darauf, dass Schulden nicht das einzige Problem Südeuropas sind, sondern auch die mangelnde Produktivität.
Aber auch für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält Van Rompuys Bericht Ungemach bereit: Die Steuerlast auf Arbeitseinkommen etwa "liegt nur in Irland, Malta, Luxemburg und Großbritannien unter 30 Prozent", dem OECD-Durchschnitt. Deutschland hat dagegen die dritthöchste Steuerquote in Europa nach Frankreich und Belgien. "Das scheint eine Herausforderung für die meisten Mitgliedstaaten zu sein", heißt es in dem Bericht.
Aber werden die 27 die Herausforderung auch ernsthaft annehmen, nachdem der belgische Ratspräsident die penibel recherchierten Statistiken vorgetragen hat? "Sie bekommen jetzt regelmäßig den Spiegel vorgehalten. Aber eine wirklich harte Debatte zwischen den Regierungschefs hat man trotzdem noch nicht gesehen. Es ist lächerlich, wenn man ein neues System schafft und gleich wieder den Druck rausnimmt", klagt ein hoher EU-Diplomat. Mit Bankern mögen "die Chefs" gern bis tief in die Nacht um milliardenschwere Gläubigerbeteiligung streiten. Doch das Prinzip des Gruppendrucks, neudeutsch "peer pressure", auch von der Bundeskanzlerin als Mittel gegen die Krise hoch gelobt, es stößt schon jetzt an seine Grenzen.
Selbst der Ratspräsident ändert daran nichts. Auch deshalb war die Wiederwahl von Herman Van Rompuy klar. Der Belgier wird von den 27 hoch geschätzt, und er hat sich gerade durch die Krise zu einer Schlüsselfigur in Brüssel entwickelt. "Im Vertrag von Lissabon stehen gerade einmal zwei Zeilen, die sein Amt definieren. Aber er hat seine Rolle in zwei Jahren gewaltig auszubauen gewusst", sagt ein EU-Diplomat. "Hinter geschlossenen Türen zeigt er, was für ein fähiger Politiker er ist." Vermittlungsvirtuose statt Bulldozer, das gefällt denen, die ihn erneut zum Vorsitzenden bestimmt haben.
Eine Wiederwahl, die verdient ist. Bis zur Unkenntlichkeit zurückhaltend hat Belgiens ehemaliger Premier zusammengehalten, was in Monaten griechischer, irischer und portugiesischer Katastrophen kurz vor dem Kollaps stand: die Union von 27 Ländern, die ohne einander nicht durch die Krise kommen. Dass Van Rompuys Lösung vor allem Konsolidierung heißt, hat zum produktiven Verhältnis beigetragen, das der Belgier mit der deutschen Kanzlerin pflegt. So muss sie in Brüssel nicht jeden Kampf selbst ausfechten.