Große Spenden kommen im Hinterland der Hauptstadt oft nicht an. Die Kinder leben in Zelten und zittern vor dem nächsten Beben.
Hamburg. Als das Beben wütete, waren sie wieder alle obdachlos. Die 50 Waisenkinder aus Petit Goave 70 Kilometer westlich von Port-au-Prince lebten plötzlich auf der Straße zwischen Trümmern, Toten und einer unkontrollierbaren Masse von herumirrenden Opfern der schweren Erdstöße vom 12. Januar. 230 000 Haitianer tot, eine Million verlor ihr Heim, jeder Zehnte davon ein Kind. Marie-Solange Joissant (54), die Leiterin des Waisenhauses mit angeschlossener Schule der "Enfants dans le desert d'Haiti" (Kinder in der Wüste von Haiti), fing wieder bei null an. Unter null sogar. Denn tagelang hatten die Waisenkinder nichts zu essen, für 48 Stunden fehlte sogar Trinkwasser.
Die erste Katastrophenhilfe kam bis zur Hauptstadt und strandete dort mit den Rettern aus aller Welt. Noch heute kommt das Wasser für die Kinder in Petit Goave aus 200-Liter-Plastikkanistern. "Wütend bin ich", sagt Marie-Solange Joissant beim Besuch der Abendblatt-Redaktion. Wütend auf Premierminister Jean-Max Bellerive, der schon von nahender Normalität spricht, und wütend auf die Hilflosigkeit. Die Regenzeit naht, die Waisenkinder leben in Zelten, die sicher nicht den deutschen DIN-Normen entsprechen. "Und es könnte morgen wieder beben."
Die Geschäftsfrau aus Paris ging 1990 zurück nach Haiti, baute das Waisenhaus und die Schule auf. Freunde unterstützten sie, auch ihre Kinder gaben Geld für das gemeinnützige Projekt. Die Waisen las sie von der Straße auf. Erst im vergangenen Jahr hatte sie aus der kleinen Grundschule eine weiterführende Klasse entwickelt. Jetzt liegt alles in Trümmern.
"Es dauert zehn, vielleicht 15 Jahre, bis unser Land wieder aufgebaut ist." Vor zwei Tagen kam Kleidung für die Kinder. Noch immer schreien viele in der Nacht. Das Trauma des Bebens hat die kleinen Seelen fest im Griff. Die versprochene Milliardenhilfe für Haiti, die großen Spendensummen auch aus Deutschland und die zahlreichen Prominenten-Besuche von Bill Clinton, Michelle Obama oder Robbie Williams geben den Überlebenden neuen Mut. Madame Joissant findet diese Gesten großartig. Doch sie fürchtet, dass viel Geld bei staatlichen Stellen und Organisationen versickert.
Der Hamburger Arbeiter-Samariter-Bund hat sich die Kinder in der Wüste von Haiti als Projekt ausgesucht: "Wir helfen dort, wo sonst keine Hilfe ankommt", sagte der Vorsitzende Harald Beese. Der ASB will ein neues Heim in Petit Goave errichten: acht Holzhäuser und eine Mauer, die leider zur Grundausstattung jeder Einrichtung in Haiti zählt. Beese muss 65 000 Euro an Spenden sammeln, um das Projekt zu realisieren. Über eine Stiftung und Einträge ins Grundbuch soll gesichert werden, dass die Gebäude nicht anderweitig genutzt werden. Dem ASB schwebt außerdem vor, die Folgekosten für die Kinder über Patenschaften zu finanzieren.
Denn statt 50 sollen in Zukunft 100 Kinder von Madame Joissants Einrichtung profitieren. Mit 40 Euro pro Kind und Monat ist ein Platz im Waisenhaus und auf der Schulbank möglich. "Ich hoffe, dass Haiti noch ein souveräner Staat ist", sagt Marie-Solange Joissant. "Aber wir sind nun mal in der Bettelposition."
Der ASB bittet um Spenden für das Waisenhaus, Kontonummer 0054545400 bei der Commerzbank Hamburg Bankleitzahl 200 800 00 .