Jerusalem. Immer mehr Reservesoldaten im Land wollen nicht mehr. Ihrem Ministerpräsidenten trauen sie nicht. Viele ziehen jetzt Konsequenzen.
Die Stiefel sind längst verschwunden. Amit hatte sie auf den Balkon seiner Erdgeschoßwohnung gestellt, zum Auslüften, und dann dort vergessen. Jetzt sind sie weg, wahrscheinlich konnten die Nachbarn, Arbeitsmigranten aus Thailand, sie für ihre Arbeit gut gebrauchen. Die Militärboots sind nun an der zivilen Front im Einsatz: Erntearbeit statt bewaffneter Kampf. Amit findet das gut.
Eigentlich sollte der 26-Jährige jetzt mit seiner Einheit an der Front dienen. Stattdessen besucht Amit an der Jerusalemer Uni Vorlesungen. Er hat genug vom Kampf. Damit ist er nicht alleine.
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Laut mehreren israelischen Berichten, die sich auf Armeequellen stützen, liegt die Bereitschaftsquote nur noch bei 75 Prozent der Reservisten. Das heißt: Auf 25 Prozent der Reservisten kann die Armee derzeit nicht zugreifen. Das ist bemerkenswert: Zu Beginn des Kriegs war die Mobilisierungsquote mit 150 Prozent sogar übererfüllt. Soldaten, die eigentlich zu alt waren, um einberufen zu werden, meldeten sich freiwillig. Manche erschienen an der Basis und wurden wieder weggeschickt, weil es keine Ausrüstung für sie gab: zu viele Soldaten, zu wenig Material.
Viele Reservisten sind kriegsmüde – Grund dafür ist auch Israels Innenpolitik
Es war kurz nach dem horrenden Überfall der Hamas am 7. Oktober, alle waren überzeugt, dass dieser Krieg einer gerechten Sache diente: dem Schutz der Zivilbevölkerung in Israel. Der Befreiung der Geiseln aus Hamas-Gewalt. Manche, wie Amit, glaubten sogar, dass mit dem Sieg über die Hamas vielleicht auch die palästinensische Bevölkerung in Gaza Freiheit erlangen könnte. Er wollte seinen Beitrag leisten.
Mehr als 400 Tage später habe der Krieg längst „eine Richtung eingeschlagen, die ich nicht mehr mittragen kann.“ Neben den offiziellen Kriegszielen – Bekämpfung der Hamas, Rückholung der Geiseln – gebe es ein inoffizielles Ziel, das alle anderen überschatte, glaubt Amit: „Rache üben und Gaza zerstören.“ Diesem Ziel hätten auch viele seiner Kameraden nachgeeifert.
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Was viele Reservisten kriegsmüde macht, ist aber nicht nur das Gefühl, dass dieser Krieg kein Ende nimmt. Die jüngsten Ereignisse in Israels Innenpolitik sind für viele der eine Tropfen zu viel. Dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mitten im Krieg den erfahrenen Verteidigungsminister Joav Gallant durch den loyalen Parteisoldaten Israel Katz ersetzte, könnte die Verweigerungswelle befeuern, glaubt Ephraim Sneh, früherer Brigadegeneral der Armee. „Zu sehen, dass der Ministerpräsident vor allem machtpolitische Ziele verfolgt, wird viele demoralisieren – die Soldaten selbst, aber auch ihre Mütter und Väter.“ Dann ist da der jüngste Skandal rund um Netanjahus Büro, das Protokolle gefälscht und Militärgeheimnisse geleakt haben soll, um die öffentliche Meinung im Krieg zu manipulieren. Die „Bibileaks“-Affäre erschüttere das ohnehin schon fragile Vertrauen in die politische Führung noch zusehends, sagt Amit. „Du brauchst aber ein gewisses Vertrauen in die Regierung, um bereit zu sein, dein Leben zu riskieren.“
Dienstverweigerung: Bald 200 Reservisten haben einen Protestbrief unterschrieben
Die meisten der Reservisten, die nun nicht mehr zum Dienst erscheinen, tun das nicht im offenen Protest. Jene 170 Männer, die einen offenen Brief unterzeichnet haben, in dem sie ihre Gründe für die Dienstverweigerung darlegen, sind eine Minderheit. Sie sind aber auch der Gradmesser für einen Stimmungswandel, der sich im Lauf des vergangenen Jahres unter vielen Reservisten vollzogen hat.
Einen ähnlichen Protestbrief von Reservisten hatte es schon im April gegeben. Damals hatten aber nur 42 Reservisten unterschrieben, beim aktuellen Brief könnten es bald 200 sein. Und auf jeden Reservesoldaten, der sich zur Dienstverweigerung bekennt, kommen mehrere weitere, die ihren Rückzug im Verdeckten antreten, sagt Amit. Sie geben gesundheitliche Gründe an, lassen sich eine Erschöpfungsdepression diagnostizieren – was in vielen Fällen wohl auch nicht gelogen ist. Sie erklären, dass sie in der Familie oder im Job dringend gebraucht werden. Grundsätzlich sind Männer bis zum Alter von 45 Jahren zum Reservedienst verpflichtet, wenn sie keine triftigen Gründe haben. Für jeden Tag, den sie unentschuldigt dem Dienst fernbleiben, können sie im Militärgefängnis festgehalten werden. Schwerer als das gesetzliche Gebot gilt die soziale Ächtung. Zu Hause zu bleiben, während andere an der Front ihr Leben riskieren, gilt als Verrat.
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Amit hat zwei Monate lang als Reservesoldat gedient. Wo genau, will er nicht sagen. Auch seinen richtigen Namen will er in dieser Zeitung lieber nicht veröffentlicht sehen. Damit hat Michael Ofer-Ziv, ein 29-jähriger Hightech-Angestellter aus Tel Aviv, kein Problem. „Ich wünschte, es würden sich mehr Leute trauen, ehrlich zu sagen, warum sie den Dienst verweigern“, sagt er. „Dann würde sich vielleicht etwas ändern.“ Einige seiner Bekannten hatten mit Michaels Ehrlichkeit keine große Freude. „Sie haben mir Textnachrichten geschrieben, dass ich den Tod verdiene.“ Michael lacht darüber, aber man merkt ihm an, dass es ihn nicht unberührt lässt.
Michael Ofer-Ziv: „Freunde haben mir Textnachrichten geschrieben, dass ich den Tod verdiene.“
Schließlich war auch er anfangs überzeugt gewesen, dass sein Engagement im Krieg sinnvoll sei. Es war Mitte Dezember 2023, als eine Nachricht aus Gaza dazu führte, dass ihm Zweifel kamen. Yotam Haim, Alon Shamriz und Samer Talalka, drei israelische Geiseln, die es geschafft hatten, sich aus der Gewalt der Hamas zu befreien, waren von israelischen Scharfschützen in Gaza erschossen worden. Sie hatten weiße Tücher geschwenkt und auf Hebräisch um Hilfe gebeten, nichts half. Die drei jungen Männer „wurden zur Verkörperung eines Gefühls, dass das Vorgehen unserer Armee den Geiseln nicht hilft, sondern ihnen sogar schadet“, sagt Michael.
Was er selbst im Reservedienst erlebte, trug eher nicht dazu bei, sein Vertrauen in die Armee zu stärken. Als Soldat, der ein gewisses Maß an Empathie für die Not der Palästinenser aufbrachte, war er in seiner Einheit Teil einer winzigen Minderheit, sagt Michael. In der Minderheit waren aber auch die rechten Extremisten, die Gaza am liebsten wieder besetzen würden. „Die Mehrheit, das waren einfach Leute, die sich einig sind, dass man keine Unbeteiligten töten soll.“ Wer als unbeteiligt gilt, war eine Frage, die dann durchaus unterschiedlich beantwortet wurde.
Michael wurde in einem „War Room“ (zu deutsch: Steuerungszentrum) eingesetzt, Angriffe auf Ziele in Gaza wurden hier gesteuert. Was er dort von anderen Soldaten hörte, befremdete ihn. „Es gibt keine Unschuldigen in Gaza“, sagte ein Kamerad. „Die Kinder, die wir (im Gaza-Krieg, Anm.) 2014 verschont haben, sind die Terroristen von heute“, meinte ein anderer. Man müsse nur eins und eins zusammenzählen, um zu wissen, dass solche Soldaten eher wenig Skrupel haben, wenn es um unbeteiligte Zivilisten geht, meint Michael. Die Aussagen im „War Room“, das Wissen um „die humanitäre Krise, die wir in Gaza geschaffen haben“ – alles zusammen war irgendwann zu viel. „Lieber sitze ich im Gefängnis, als auch nur einen Tag länger zu dienen.“
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