Essen/Kfar Aza. Die Attacke veränderte das Leben vieler Menschen, in Israel wie im Gazastreifen. Ralph Levinsohn und Ali Alhadschar sind zwei von ihnen.

  • Das Massaker der Hamas am 7. Oktober schockt Israel
  • Die Reaktion der israelischen Regierung fällt verheerend aus
  • Wie erlebten die Menschen den 7. Oktober und die Tage danach?

Am Abend des 6. Oktober 2023 sitzt Ralph Levinsohn in seinem kleinen Haus im Kibbuz Kfar Aza. Seine Frau, die Kinder, die Enkelkinder sind da, es ist ein Familienessen vor Simchat Torah, dem Feiertag, den die Kleinen lieben, weil es Süßigkeiten gibt. Simchat Torah ist traditionell ein Tag der Freude.

Ali Alhadschar verbringt den Abend in seinem Haus in Rafah, zusammen mit seiner schwangeren Frau und den vier Kindern. Rafah liegt nur dreißig Kilometer südwestlich von Kfar Aza. Die Familie hat ein schönes Wochenende auf ihrer Farm verbracht, inmitten von Olivenbäumen. Die Ernte war dieses Jahr gut.

Am nächsten Morgen bricht die Hölle auf. Das Leben beider Familien verändert sich für immer.

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Kinder der Familie Alhadschar vor einem zerstörten Haus im Gazastreifen: Irgendwie haben sie es geschafft zu überleben. © privat | privat

Es ist noch früh am 7. Oktober, als Ali Alhadschar (39) seine drei Töchter und seinen Sohn zu dem Bus bringt, mit dem sie in die Schule fahren. Zehn nach sechs. „Ich wollte mit meiner Frau eine Tasse Tee trinken, dann habe ich die erste Rakete gehört.“ Er steigt auf das Dach seines Hauses, sieht eine weitere Rakete, die Richtung Israel fliegt, dann Dutzende andere. Alhadschar hat Angst um seine Kinder, er rennt zu ihrer Schule. Dichter schwarzer Abgasrauch wabert in den Straßen.

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Um dieselbe Zeit befindet sich Ralph Levinsohn (72) mit seiner Frau und dem Familienhund im Schutzraum ihres Hauses in Kfar Aza, einem Kibbuz nur zwei Kilometer entfernt vom Gazastreifen. Raketenalarm ist in Kfar Aza nichts Ungewöhnliches. Immer wieder sind in den vergangenen Jahren Geschosse aus dem Gazastreifen auf den Kibbuz abgefeuert worden. Jedes Haus hat einen Schutzraum, der Kindergarten ist eingebunkert. Diesmal aber ist es anders, heftiger als sonst. Ein Einschlag nach dem anderen. „Dann haben wir Schüsse aus Sturmgewehren gehört.“

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Ralph Levinsohn im Kibbuz Kfar Aza: Bange Stunden im Schutzraum – und irgendwann versiegen die Nachrichten der Nachbarn. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Überfall auf Israel: Ralph Levinsohn erlebt das Grauen

Es ist der Beginn eines Terrorüberfalls, wie ihn Israel noch nie erlebt hat. An diesem Tag schießen palästinensische Extremisten Tausende Raketen ab. Kämpfer der Hamas, des Islamischen Dschihad und Zivilisten durchbrechen die Grenzbefestigungen, von denen die israelischen Sicherheitsbehörden dachten, dass sie unüberwindbar seien. Sie dringen über Land, die Luft, das Meer in Israel ein, stürmen 21 Kibbuzim nahe der Grenze, stoßen bis nach Sderot vor, einer Kleinstadt fast zwanzig Kilometer entfernt vom Gazastreifen, überfallen ein Techno-Festival. Sie töten 1139 Zivilisten und Soldaten, vergewaltigen, plündern. Sie verschleppen 250 Menschen.

Der Tag wird als der Schwarze Schabbat in die israelische Geschichte eingehen.

Ralph Levinsohn verbringt mit seiner Frau quälend lange Stunden im Schutzraum. Sie hören draußen Explosionen, Schüsse, Schreie. Ab und an öffnet er die Tür, damit sein Telefon Empfang hat. Er liest die Nachrichten von Familien, in deren Häuser die Terroristen eindringen und um sich schießen. Von Familien, deren Häuser brennen. „Dann sind von ihnen keine Nachrichten mehr gekommen.“ Es dauert 24 Stunden, bis israelische Soldaten durch das Fenster seines Hauses eindringen. „Wir hatten Angst, dass es die Terroristen sind. Dann haben wir gehört, dass sie Hebräisch sprechen.“ Die Soldaten geleiten ihn, seine Frau und andere Nachbarn zu einer Tankstelle eineinhalb Kilometer entfernt von Kfar Aza. Der Weg ist das Grauen. „Überall lagen Leichen und ausgebrannte Autos.“

Bomben auf Gazastreifen: „Meine Kinder waren völlig verängstigt“

In Rafah im Süden des Gazastreifens hört Ali Alhadschar in den Nachrichten, was geschehen ist. Er sieht in den sozialen Medien die Videos, die die Terroristen selbst veröffentlichen, aufgenommen mit Helmkameras und Telefonen. Er ist schockiert. „Sie waren erschreckend und widersprachen islamischen Werten.“ Alhadschar ahnt: Die israelische Rache wird furchtbar ausfallen. Er soll recht behalten. Wenige Stunden nach dem Beginn des Überfalls fallen die ersten Bomben. Die Grenzübergänge werden blockiert. In den Tagen darauf fordert die israelische Armee die Menschen im Norden des Gazastreifens auf, nach Rafah zu fliehen. „Tausende Familien fanden nichts als Schulen und Straßen, um Zuflucht zu suchen.“

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Ali Alhadschar (39) vor Trümmern im Gazastreifen: Er sorgt sich um seine Frau und seine fünf Kinder. © Priv | Priv

Nach vier Tagen ist die Invasion zurückgeschlagen. Bis zu 1500 Terroristen sind tot. Die bewaffneten Gruppen im Gazastreifen attackieren Israel aber weiter. Sie feuern ihre Geschosse aus Wohngebieten heraus ab. Die israelische Luftwaffe fliegt Angriffe, die Artillerie schießt unentwegt. „Der Lärm der ununterbrochenen Angriffe war unbeschreiblich, meine Kinder waren völlig verängstigt.“ Auch Rafah wird bombardiert. „Viele unserer Nachbarn wurden getötet, ihre Häuser dem Erdboden gleichgemacht.“  Die Energie- und Wasserversorgung im Gazastreifen bricht zusammen. „Wir fingen an, unser Essen auf dem Feuer zu kochen.“ Am 27. Oktober rücken israelische Soldaten in den Norden des Landstrichs ein. Die Bodenoffensive hat begonnen.

Vier Wochen später scheint es Hoffnung zu geben. Eine Feuerpause tritt in Kraft. Hilfsgüter kommen in den Gazastreifen, die Hamas lässt 105 Geiseln frei, im Gegenzug entlässt Israel 300 palästinensische Gefangene. Unter den freigelassenen Geiseln ist auch Aviv Siegel, 62, verschleppt aus Kfar Aza, wie 17 andere Bewohner des Kibbuz. Ihr Mann Keith, 64, bleibt im Gazastreifen. Ralph Levinsohn kennt ihn, jeder kennt jeden in der kleinen Gemeinschaft, in der vor dem Überfall 900 Menschen lebten. „Keith ist ein guter Freund von mir.“

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Israel unter Beschuss: Hisbollahs Feuerlinie

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Horror im Gazastreifen: Hunde streunen in den Straßen und fressen Leichen

Die Hoffnung auf einen dauerhaften Waffenstillstand zerschlagen sich nach acht Tagen. Die Kämpfe beginnen wieder und weiten sich auf Khan Yunis im Zentrum des Gazastreifens aus. Ali Alhadschar ist entsetzt. „Das hat bei uns Verzweiflung und Frustration ausgelöst“. Noch mehr Flüchtlinge drängen nach Rafah. In einer Nacht Mitte Februar setzen bei Alhadschars Frau die Wehen ein. „Es war klirrend kalt, der Bombenlärm überwältigend. Das nächste Krankenhaus war zwölf Kilometer entfernt, es gab keinen Krankenwagen oder Transportmittel.“ Seine Tochter kommt zu Hause auf die Welt.

Die Nahrungsmittelkrise spitzt sich zu. Alhadschar beobachtet, wie Hamas-Kämpfer Hilfstransporte plündern. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie deutsche Hilfe auf den Märkten verkauft wurden.“ Anfang Mai kommt die israelische Evakuierungsaufforderung für Rafah. „Das war ein großer Schock.“ Alhadschar flieht mit seiner Familie nach Khan Yunis, dort sind die Kämpfe mittlerweile abgeflaut. Andere Familien bleiben, vor allem die, die bereits mehrfach geflohen sind. Sie sind zu ausgelaugt. Er sieht, wie Krankenhauspatienten sich über die Straßen schleppen. „Das waren schreckliche Szenen.“ Er und seine Frau bauen eine Hütte unter einem Baum. Sie haben Angst vor den Hunden, die in den zerstörten Straßen streunen und Leichen fressen. Insekten plagen sie.

Irgendwie schafft es die Familie, zu überleben. Mitte Juni steht Ali Alhadschar vor den Trümmern seines Hauses in Rafah. „Mir wurde kalt. Ich hatte so viel Mühe in den Bau gesteckt, es gab so viele schöne Erinnerungen. Berge von Traurigkeit sanken auf mein Herz.“

Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl

Israel und Gaza: Trauma ist noch längst nicht bewältigt

Ralph Levinsohn lebt jetzt mit seiner Frau in Ra’anana in Zentralisrael. Die beiden wollen nach Kfar Aza zurückkehren, wenn der Kibbuz wieder aufgebaut ist. In den kommenden Tagen werden sie die Gräber der 64 Menschen besuchen, die bei durch den Terrorüberfall der Hamas in Kfar Aza getötet wurden. „Man kann sich nicht vorstellen, was das für ein Schmerz ist.“ Seine zwölfjährige Enkeltochter ist so sehr traumatisiert, dass sie nicht allein aus dem Haus gehen kann. Seine Frau wird psychologisch betreut. Fünf Bewohner des Kibbuz sind noch immer in Geiselhaft. Im April gab es ein Lebenszeichen von Keith Siegel, eine Videobotschaft. Er sah sehr schlecht aus, sagt Levinsohn.

Am 4. Oktober besucht Alhadschar seine Farm, in der er mit seiner Familie die letzten schönen Tage vor dem Krieg verbracht hat. Seine Olivenbäume sind zerstört. Noch immer ist kein Ende des Krieges absehbar.

Bis heute sollen im Gazastreifen laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bis zu 42.000 Menschen getötet worden sein. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. 101 Menschen sind noch in der Geiselhaft der Hamas.

(Ali Alhadschar ist nicht der richtige Name des jungen Palästinensers. Er muss geschützt werden, weil er die Hamas kritisiert. Wir stehen mit ihm seit mehreren Monaten täglich in Kontakt.)