Berlin. Die Bundesregierung wollte abgelehnte türkische Asylbewerber abschieben. Doch Erdogan macht einen Rückzieher. Das steckt dahinter.
Es klang nach heftigem Krach im Kanzleramt. Kanzler Olaf Scholz (SPD) und sein Gast, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, hatten ihr Gespräch noch gar nicht begonnen, da lieferten sie sich vor laufenden Kameras einen offenen Schlagabtausch über Israels Rolle zum Nahost-Konflikt.
Doch der Eindruck eines ernsten Streits täuschte. Beim Dinner hinter verschlossenen Türen legten Scholz und Erdogan im vorigen November den Grundstein für eine Verständigung, die aus Kanzler-Perspektive elf Monate später ein wichtiger Meilenstein einer neuen, härteren Asylpolitik werden soll: Die Türkei gibt ihren Blockadekurs bei der Rücknahme von Asylbewerbern auf, perspektivisch steht zehntausenden Türken die Abschiebung aus Deutschland bevor. „Wir haben erreicht, dass Rückführungen in die Türkei schneller und effektiver erfolgen können und die Türkei Staatsbürger, die nicht in Deutschland bleiben dürfen, schneller zurücknimmt“, beschreibt Innenministerin Nancy Faeser (SPD) gegenüber unserer Redaktion die Verständigung.
Abschiebungen in die Türkei: 200 türkische Staatsbürger sollen zurückgebracht werden
In aller Stille haben Experten monatelang verhandelt. Das Ziel hatten Präsident und Kanzler schon bei ihrem Abendessen in Berlin vereinbart. Sie beauftragten eine gemeinsame Arbeitsgruppe zum Thema Abschiebung mit einem „baldigen einvernehmlichen Ergebnis“. Trotz der klaren Ansage dauerte es dann nicht nur länger als erwartet. Es gab jetzt vorübergehend auch Verwirrung, was schon „einvernehmliches Ergebnis“ ist – und was sich erst daraus entwickeln soll.
Kommentar zum Thema: Abschiebungen: Die Politik darf nicht zu viel versprechen
Zum Ergebnis gehört, dass zunächst 200 türkische Staatsbürger mit Linienflügen und ohne großes Aufsehen zurück in ihre Heimat gebracht werden; die Namensliste hat Ankara schon abgesegnet. Doch setzt Erdogan auf Diskretion, Parallelen zu Fluchtländern wie Afghanistan, in denen unter den Augen der Weltöffentlichkeit große Charterflugzeuge mit Zwangs-Heimkehrern landen, will er vermeiden. Dafür sollen die stillen Rückführungen erst der Anfang sein.
500 Abschiebungen pro Woche? Das wäre wohl schwer umsetzbar
Ankara hat in Aussicht gestellt, weit mehr Asylbewerber zurückzunehmen, wenn die Zusammenarbeit reibungslos klappt. Eine Zahl von 500 Menschen pro Woche, von der jetzt die Rede ist, wäre in der Praxis allerdings schwierig umsetzbar. Zugesagt hat die türkische Regierung solche Größenordnungen offenbar noch nicht. Als die Zahl am vergangenen Wochenende publik wurde, bremste Erdogan energisch: „Das ist nicht wahr“, ließ er klarstellen, es handele sich um „unbegründete Behauptungen“.
Erdogan hat wohl auch taktische Gründe für den Widerspruch: Im Gegenzug setzt er auf Visa-Erleichterungen für die türkischen Bürger, ein Thema, um das seit Jahren gerungen wird, während die Zahl der Visa-Anträge seit Jahren steigt. Berlin sagt nun zu, dass Visa-Anträge schneller bearbeitet werden. Details der Gespräche hält die Bundesregierung unter Verschluss.
Lesen Sie auch: Erdogan in Berlin: Fünf Gründe, warum Scholz ihn trotz Differenzen braucht
Viele Türken verlassen das Land wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage
Innenministerin Faeser nennt die Verständigung auf schnellere Abschiebungen indes einen großen Fortschritt und einen „weiteren Baustein zur Begrenzung der irregulären Migration.“ Denn die Türkei hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Herkunftsländer für Asylbewerber hierzulande entwickelt, sie liegt jetzt auf Platz drei hinter Syrien und Afghanistan – mit über 61.000 Asylanträgen allein 2023. Die politische Verfolgung, unter der etwa kurdische Oppositionelle leiden, ist bei den Antragstellern offenbar nur ein Motiv unter vielen.
Die Mehrheit der Asylbewerber verlässt ihr Land eher wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, wegen des Erdbebens im Februar 2023 oder Erdogans Wiederwahl wenige Monate später. Als Deutschland für Überlebende des Erdbebens mehr als 10.000 Kurzzeit-Visa ausgab, blieben manche Katastrophen-Betroffene gleich hier und beantragten Asyl. Aber: Nicht einmal jeder zehnte Asylantrag von Türken führte zuletzt zu irgendeiner Form von Schutzstatus, viel seltener als etwa bei Syrern oder Afghanen. Schließlich gilt die Türkei als sicheres Herkunftsland, sie ist Nato-Partner und – auf dem Papier – EU-Beitrittskandidat.
15.600 Türken in Deutschland sind ausreisepflichtig
Aktuell sind daher etwa 15.600 türkische Asylbewerber ausreisepflichtig. Nur ein Bruchteil aber kehrt tatsächlich zurück: 2023 waren es etwa 1300. Bislang setzten die türkischen Behörden überwiegend auf Blockade, führten rechtliche Bedenken ins Feld. Tausende Ausreisen scheiterten bisher an fehlenden Reisedokumenten. Hier haben Erdogans Unterhändler nun mehr Kooperation zugesagt. Türkische Staatsbürger, die sich unerlaubt in einem anderen Land aufhielten, seien zur Rückkehr in die Türkei verpflichtet, heißt es nun. Bei Flüchtlingsorganisationen gilt die Verständigung als „unverantwortlich“, Pro Asyl etwa verweist auf die schwierige Menschenrechtslage in der Türkei.
Doch für Kanzler Scholz ist es ein Durchbruch. Vor gut einem Jahr hatte er eine große Ankündigung gewagt: „Wir müssen endlich in großem Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Wer sich nicht auf Schutzgründe berufen könne und keine Bleibeperspektive habe, müsse gehen. Scholz weiß, dass ihn die Bürger bei der Bundestagswahl auch daran messen werden. Aus seiner Sicht hat er schon einiges erreicht: Immerhin ist die Zahl der Abschiebungen um ein Fünftel gestiegen. Im ersten Halbjahr sind 9500 Migranten abgeschoben worden – von etwa 44.000 Menschen, die aktuell sofort ausreisepflichtig sind. Insgesamt gelten 227.000 Personen als ausreisepflichtig, davon hat der Großteil aber eine sogenannte Duldung etwa wegen Krankheit oder fehlender Dokumente.
Lesen Sie auch den Kommentar: Wer Abschiebung verspricht, muss auch liefern
Mit Migrationsabkommen versucht die Bundesregierung, Abschiebungen zu beschleunigen und im Gegenzug auch Arbeitskräftezuwanderung zu erleichtern. Es gibt solche Deals schon zum Beispiel mit Indien, Georgien, Marokko, Kenia und Usbekistan, bald wohl auch mit Kolumbien, Ghana oder den Philippinen. Aber ausgerechnet mit Syrien und Afghanistan, den wichtigsten Heimatländern von Asylbewerbern in Deutschland, sind Abkommen nicht in Sicht. Es bestehen ja nicht einmal offizielle diplomatische Kontakte zu den Regimen in Damaskus und Kabul. Noch nicht.
CDU-Chef Friedrich Merz fordert schon Verhandlungen mit den Machthabern, auch in der FDP gibt es die Forderung nach diplomatischen Kontakten. BSW und AfD wollen sogar schon wieder offiziell Botschafter nach Syrien entsenden – vor allem die Grünen, die mit Annalena Baerbock die zuständige Außenministerin stellen, schließen diesen Schritt aber strikt aus. Wenig wahrscheinlich, dass der spektakulären Abschiebung von 28 Straftätern nach Afghanistan Ende August bald weitere Rückführungen nach Kabul folgen. Scholz lobte die Aktion als „sehr diskret gemacht“ und „sorgfältig vorbereitet“. Den Deal mit der Türkei wollte der Kanzler wohl ähnlich einfädeln, doch der selbstbewusste Präsident in Ankara ist ein schwer berechenbarer Verhandlungspartner.
- Interview: Pistorius: „Putin weiß, wie er Nadelstiche bei uns setzen muss“
- Vertrauensfrage: Fünf Erkenntnisse aus einem historischen Tag
- Buchpräsentation: Diesen Putin-Satz vergisst Merkel bis heute nicht
- Podcast: Bärbel Bas über ihre Kindheit und Armut
- Infrastruktur: Gekappte Ostsee-Kabel – Die Angst um unsere Lebensadern