Berlin. Welche Krisen der Kanzler mit dem türkischen Präsidenten dringend klären muss. Was Scholz dabei von Merkel und Schröder lernen kann.

Auf diesen Besucher freut sich Kanzler Olaf Scholz (SPD) offensichtlich nicht. Das Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Freitag wird von der Bundesregierung vorab als „herausfordernd“ eingestuft, womit das Staatsoberhaupt auch offiziell als schwieriger Gast gilt. Seine Hetzreden gegen Israel („Faschismus“) hat Scholz harsch als „absurd“ zurückgewiesen.

Der Kanzler ist erstmals Gastgeber des türkischen Präsidenten, doch der fände sich auch ohne Hilfe bestens in der Regierungszentrale zurecht: Viermal wurde Erdogan schon im Kanzleramt empfangen, das erste Mal vor genau 20 Jahren. Der damalige Hausherr Gerhard Schröder, großer Befürworter eines türkischen EU-Beitritts, wurde zum „geschätzten Freund“ Erdogans und ist es bis heute geblieben. Im Juni war Schröder mit Ehefrau Soyeon wieder zu Gast im Präsidentenpalast in Ankara, als Erdogan dort mit Freunden seine Vereidigung nach gewonnener Wiederwahl feierte.

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    Eisig war dagegen lange Zeit das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und Kanzlerin Angela Merkel. Sie mochten sich nicht. Merkel bremste beim türkischen EU-Beitritt, erst in der Flüchtlingskrise 2015 fanden beide zu einer engeren Zusammenarbeit. Später sorgte die Kanzlerin dafür, dass die EU-Regierungschefs mit Erdogan im Gespräch blieben, auch wenn sie sich über sein autokratisches Gebaren ärgerten: Deutschland brauchte ihn, er sollte die Migranten an der Weiterreise nach Europa hindern.

    So sieht es nun auch Scholz, der den Präsidenten am Freitagabend zum Vier-Augen-Gespräch, danach zum Abendessen bittet: Der Kanzler folgt Merkels kühlem Pragmatismus, keine Spur von Schröders Kumpanei. Die Türkei sei bei einer ganzen Reihe von Themen ein wichtiger Faktor, heißt es nüchtern im Kanzleramt. Es gehe darum, in diesen Fragen voranzukommen. Es sind gleich fünf Gründe, warum Scholz auf Erdogan angewiesen ist – auch wenn dessen feindselige Haltung zu Israel die Begegnung überschattet.

    Kanzler-Problem eins: Flüchtlingsdeal

    Scholz braucht dringend Erdogans Hilfe wegen des anschwellenden Flüchtlingsproblems, das innenpolitisch zur wichtigsten Herausforderung des Kanzlers geworden ist und 2025 wahlentscheidend sein könnte. Der SPD-Politiker will das Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei wiederbeleben, das maßgeblich auf Merkels Betreiben zurückgeht. Die Türkei hatte 2016 zugesagt, die Schleuseraktivitäten an der türkischen Grenze zu stoppen und jene Migranten zurückzunehmen, deren Asylantrag in Griechenland abgelehnt wurde. Im Gegenzug versprach die EU Ankara bis heute zehn Milliarden Euro, unter anderem für die Unterbringung der Flüchtlinge in der Türkei.

    Aber der Pakt funktioniert nicht mehr richtig. Von Griechenland nimmt die Türkei seit Jahren kaum noch Migranten zurück, als Drohgebärde öffnete Erdogan 2020 kurzzeitig die Grenze. Scholz mahnte diese Woche, das Abkommen sei wichtig für Europa: Es habe gut gewirkt, müsse jetzt „fortgesetzt und natürlich auch weiter entwickelt werden“. Letzteres ist eine freundliche Umschreibung für die Bemühungen, die hinter den Kulissen seit Monaten zwischen der Europäischen Union und der Türkei laufen: Es geht um neue Milliardenzusagen, Visaerleichterungen für türkische Bürger und eine Ausweitung der gemeinsamen Zollunion. Wie 2016 dürfte auch diesmal deutsche Vermittlung gefragt sein, damit ein EU-Gipfel im Dezember neue Milliardentransfers beschließt.

    Kanzler-Problem zwei: Türkische Imame

    In der Bundesrepublik leben rund drei Millionen türkischstämmige Menschen, so viele wie nirgends sonst außerhalb der Türkei. Nur die Hälfte von ihnen hat einen deutschen Pass. Erdogan versucht, auf seine früheren und heutigen Landsleute in Deutschland massiv Einfluss zu nehmen, was zum Teil deren Integration erschwert – und im aktuellen Nahost-Konflikt die Spannungen auch in Deutschland anheizt. Ein Hebel für Ankara ist der größte deutsche Islamverband Ditib. Dessen Imame sind türkische Beamte und werden von der türkischen Religionsbehörde Diyanet bestimmt. Behördenchef Ali Erbas verbreitet antisemitische Reden.

    Auch in Deutschland hat der türkische Präsident Erdogan Anhänger, vor allem unter den drei Millionen Türkischstämmigen. Das Bild zeigt jubelnde Anhänger in Duisburg, die Erdogans Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Mai feiern.
    Auch in Deutschland hat der türkische Präsident Erdogan Anhänger, vor allem unter den drei Millionen Türkischstämmigen. Das Bild zeigt jubelnde Anhänger in Duisburg, die Erdogans Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Mai feiern. © picture alliance | Christoph Reichwein

    Seit einer Bespitzelungsaffäre sind Fälle bekannt, in denen Ditib-Imame potenzielle Kritiker der türkischen Regierung unter den Moscheemitgliedern ausspähen und die Informationen an Ankara weitergeben. Die Bundesregierung drängt darauf, dass sich Ditib von der türkischen Regierung löst – und Erdogan seine Einflussversuche verringert. Scholz wird mit seinem Gast darüber sprechen müssen. Thema sind aber auch die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern: Fast 8000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung sind in der Türkei aktiv, die Handelsbilanz ist zuletzt auf 52 Milliarden Euro gestiegen.

    Kanzler-Problem drei: Deutsche in Haft

    Mindestens 65 deutsche Staatsbürger können die Türkei aufgrund von Ausreisesperren derzeit nicht verlassen. Allein im laufenden Jahr sind nach neuen Daten der Bundesregierung 16 neue Fälle bekanntgeworden – die Hälfte davon steht im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen, wie die Bundesregierung diese Woche auf eine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen mitgeteilt hat. Aktuell befinden sich demnach 62 deutsche Staatsangehörige in der Türkei in Haft. Kritiker werfen der türkischen Justiz und der Regierung vor, eine zu breite und vage Definition von Terrorismus anzuwenden. Prominentester deutscher Gefangener war – wegen des konstruierten Vorwurfs der Terror-Unterstützung – der Journalist Deniz Yücel, der 2018 aus der Haft entlassen wurde. Für Berlin sind solche Fälle stets ein großes Problem, auch allgemein belasten die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei die Beziehungen.

    Kanzler-Problem vier: Nato

    Die Türkei spielt eine wichtige Rolle in der Nato, sie sichert die fragile Südostflanke des Bündnisgebietes und stellt mit fast 600.000 Soldaten die zweitwichtigste Streitkraft der Allianz nach den USA. Erdogan hat im Juli zugesagt, die Blockade des Nato-Beitritts von Schweden zu beenden; die Ratifizierung durch das türkische Parlament steht aber noch aus. Deutschland und die anderen Nato-Partner sind hier auf Erdogan angewiesen – Scholz wird wohl mindestens noch einmal gut zureden.

    Kanzler-Problem fünf: Ukraine und Nahost

    Deutschland hat großes Interesse daran, dass Erdogan das gestiegene Gewicht der Türkei als Regionalmacht und Brücke zur islamischen Welt auch im Sinne seiner westlichen Nato-Partner einsetzt. Darauf wird Scholz drängen. Im Ukraine-Krieg ist die Türkei einer der wichtigsten Vermittler zwischen Moskau und Kiew. Die Türkei war Gastgeber der bislang einzigen – und erfolglosen – Gespräche beider Seiten über einen Waffenstillstand. Auf Erdogans Betreiben kam das Abkommen zustande, das bis zum Sommer den Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer sicherstellte. Auch im Krieg zwischen Israel und den Hamas-Terroristen hatte sich Erdogan anfangs als Vermittler angeboten.