Berlin. Die Grünen sehen große Versäumnisse bei sich selbst – und wollen trotzdem die SPD im Mitte-links-Lager ablösen. Wie das gehen soll.
Das Abschneiden bei der Europawahl war für die Grünen eine Enttäuschung: 11,9 Prozent, das blieb selbst hinter den gedämpften Erwartungen zurück. Deshalb ist es fünf Wochen nach dem Wahltag durchaus überraschend, wenn die Partei präsentiert, welche Lehren sie aus der Wahl zieht – und eine von diesen Lehren ist, dass die Grünen das Mitte-links-Lager des deutschen Parteiensystems führen wollen.
„Wir haben eine klare Chance als führende Kraft der linken Mitte“: Das war eine der Botschaften, die die Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour dabeihatten, als sie am Mittwochabend bei einer Online-Veranstaltung für Mitglieder ihre Wahlanalyse vorstellten. Die soll jetzt die Grundlage bilden für bessere Ergebnisse bei den Landtagswahlen und vor allem bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr.
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Nach der kalten Dusche bei der Europawahl war der grüne Bundesvorstand ins Gespräch gegangen, mit den eigenen Mitgliedern, den Parteigremien, den Leuten in den Wahlkreisen, aber auch mit Experten von außerhalb. Vorläufiges Ergebnis dieses Prozesses sind acht Erkenntnisse, auf denen die Arbeit künftig aufbauen soll.
Analyse der Grünen: Menschen hätten das Gefühl, dass die Partei an Sorgen „vorbeiredet“
Angefangen hatte die Analyse an einer Stelle, die von Führungsanspruch weit weg war: „Die Menschen fühlen sich von der Politik nicht gehört und werden es zu wenig – auch von uns“, heißt die erste Lektion, die die Parteispitze an diesem Abend mitgebracht hat. Und gleich hinterher, ebenso ungeschminkt: „Die Menschen haben berechtigte Sorgen – und das Gefühl, dass wir an diesen vorbeireden.“
Weniger „Politik des Imperativs“ soll die Antwort der Partei darauf sein, sagt Ricarda Lang, also: Den Menschen weniger sagen, was sie tun und lassen sollen. Stattdessen mehr zuhören, etwa in neuen Gesprächsformaten, und mehr Präsenz vor Ort. Vor allem konkrete Antworten auf konkrete Probleme will die Partei bieten, wie etwa die Inflation, die vielen Menschen immer noch den Alltag schwer macht.
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Das soll auch bei einem Thema gelten, dass zuletzt wenig im Fokus stand: dem Umwelt- und Klimaschutz. Alle Untersuchungen würden zeigen, sagte Omid Nouripour, dass die Grünen bei diesem Thema unterscheidbarer seien als bei allen anderen. Klima- und Naturschutz sollen deshalb wieder stärker wahrnehmbar sein in dem, was die Grünen tun. Und das am besten verbunden mit guter Laune, man will „Weltuntergangszenarien“ (Nouripour) vermeiden.
Umfragen sehen die Partei deutlich hinter dem Führungsanspruch
Als Weg zurück in die Nische, als Konzentration auf die Kernwählerschaft will die Parteispitze diese Betonung von Klima und Natur ausdrücklich nicht verstanden sehen. Stattdessen, sagte Lang, soll die Partei die eigenen Stärken wieder mehr betonen, robuster werden, was Attacken von außen angeht. „Wenn man andere begeistern will“, sagte sie, „schafft man das nicht, wenn man sich für sich selbst schämt.“
Auf dieser Basis also soll es etwas werden mit dem Führungsanspruch im Mitte-links-Lager. Es gebe einen Platz im Parteiensystem für die Grünen als prägende Kraft, sagte Lang. Die Meinungsumfragen markieren derzeit allerdings einen Unterschied zwischen diesem Anspruch und der Realität: Bundesweit standen die Grünen zuletzt zwischen 11 und 13 Prozent. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo im Herbst gewählt wird, geht es eher darum, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden.