Berlin. Kann der Wirtschaftsminister seine schwächelnde Partei im Rennen ums Kanzleramt konkurrenzfähig machen? Was dafür spricht, was dagegen.

Wenige Stunden bevor öffentlich wird, dass die Entscheidung gefallen ist, wird Robert Habeck auf offener Bühne gefragt, wie das denn nun sei, mit ihm, Annalena Baerbock und der Kanzlerkandidatur der Grünen im kommenden Jahr.  

Und weil er zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen kann, dass Baerbock ihm die Kandidatur nicht weiter streitig machen wird, holt er ein bisschen aus. Die Frage nach der Kandidatur, sagt Habeck beim Leserdialog der WAZ, sei weniger eine für ihn oder die Außenministerin, nach dem Motto „Wer will denn mal, wer hat noch nicht“. Sondern mehr eine an die Partei: „Was bietet ihr dem Land an? Was wollt ihr in Zukunft repräsentieren, wer wollt ihr sein als Partei?“ Seit Mittwochabend ist jetzt klar: Das Angebot der Grünen heißt Robert Habeck.

Die Partei erspart sich mit dem Rückzug der Außenministerin, erklärt via CNN-Interview, die Wunden eines möglichen Machtkampfs. Und für den Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister verwirklicht sich ein lang gehegter Wunsch. Schon 2021 hätte er sich gern für die Grünen um das Kanzleramt beworben. Wie schmerzhaft der Verzicht zugunsten von Außenministerin Annalena Baerbock war, zeigte er unverhohlen. Jetzt also die zweite Chance. Wird er sie nutzen können?

Unterstützer sehen in Habeck jemanden, der auch Milieus erreicht, die nicht schon grün wählen

Seine Unterstützer in der Partei werden nicht müde, die Argumente vorzutragen, die für einen Erfolg Habecks sprechen. Sie verweisen auf die erfolgreich bewältigte Gaskrise und große Fortschritte beim Ausbau der Erneuerbaren Energien. Vor allem aber sehen sie in ihm jemanden, der mehr als andere Grünen-Vertreter auch die Menschen erreicht, die nicht sowieso schon zu den Stammwählern der Partei gehören.

Habeck, der in Hemdsärmeln vor aufgebrachten Raffinerie-Arbeitern in Schwedt auf einen Tisch klettert, Habeck, der keine Scheu hat, komplexe Probleme in einfache Worte zu kleiden: Ihm trauen sie am ehesten zu, aus den Grünen doch noch einmal das zu machen, was sie schon vor 2021 werden wollten – eine neue Volkspartei. Dafür ist er auch bereit, sich mit den eigenen Leuten anzulegen, etwa in der Migrationspolitik, wo er auf dem Parteitag in Karlsruhe nur mit Mühe den offenen Bruch verhindern konnte.

Umfragen weisen aus, dass Habeck mit diesem Kurs zu den beliebteren Grünen-Politikern gehört. Im jüngsten Politikbarometer, in dem die Befragten die Arbeit von Politikerinnen und Politikern auf einer Skala von -5 bis +5 bewerten, lag Habeck zuletzt bei -0,5. Schlechter als Friedrich Merz mit 0,0, aber besser als Annalena Baerbock (-0,7) und Olaf Scholz (-1,0).

Habeck postet lange, erklärende Reden zu Israel und Ukraine

Vor allem im Vergleich mit dem SPD-Bundeskanzler war Habeck in den vergangenen Monaten immer wieder aufgefallen als jemand, der bereit und in der Lage ist, Stimmungen in der Bevölkerung aufzugreifen und die Politik der Bundesregierung verständlich zu erklären. Zu Ostern postete sein Ministerium ein Video, in dem Habeck auf die Sorgen vieler Menschen vor einer Eskalation des Ukraine-Kriegs einging und erklärte, warum er eine weitere Unterstützung der Ukraine für notwendig hält. Ein 10-minütiges Video zum Angriff der Hamas auf Israel und Antisemitismus von Anfang November des vergangenen Jahres zeichnete das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen sogar als „Rede des Jahres 2023“ aus.

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Schon diese Wortmeldungen wurden interpretiert als nachdrückliches Signal, dass Habeck es nicht beim Vizekanzleramt als Höhepunkt seiner Karriere belassen will. Doch eine Kandidatur des 58-Jährigen kommt mit Ballast. Auch der talentierte Rhetoriker Habeck ist in der Vergangenheit öffentlich ins Stolpern gekommen.

In Erinnerung geblieben ist etwa ein Auftritt in einer Talkshow während der Energiekrise, als er auf die Frage nach einer möglichen Insolvenzwelle sagte, er könne sich vorstellen, dass Betriebe aufhören würden zu produzieren, aber nicht insolvent gingen. Gemeint war, dass ein kurzfristiger Produktionsstopp nicht zwangsläufig zur Insolvenz führt. Was öffentlich hängenblieb, war aber der Eindruck, der Wirtschaftsminister verstehe die grundlegenden Mechanismen seines Ressorts nicht.

Habeck über das Heizungsgesetz: „zu weit gegangen“

Doch wohl nichts liegt so schwer auf dieser Seite der Waagschale wie das Gebäudeenergiegesetz. Das Gesetz aus Habecks Haus, in seiner ursprünglichen Version maßgeblich geformt durch den inzwischen geschassten Staatssekretär Patrick Graichen, sorgte für einen der erbittertsten Streits in der Ampel-Koalition, Verunsicherung und Ärger unter Hausbesitzern – und einen Absturz der Grünen in den Umfragen. Auch Unterstützer des Vizekanzlers sehen darin heute einen Fehler, der nur schwer wieder auszugleichen ist. Und Habeck selbst spricht davon, dass er „zu weit gegangen“ sei.

Auch deshalb steht mehr als ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl die Frage im Raum, ob die Grünen in der Position sein werden, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen – oder ob ein Spitzenkandidat nicht vielleicht angemessener wäre.

Zuletzt kannten die Umfragewerte für die Partei nur eine Richtung: abwärts, bis auf jüngst 11 Prozent. Von den Spitzenwerten weit über 20 Prozent, die sie in der Vergangenheit erreicht haben, ist das weit entfernt. Vom Anspruch, auf Augenhöhe mit Union und Sozialdemokraten anzutreten, will man innerhalb der Partei aber trotzdem nicht lassen.

Manfred Güllner, Chef des Umfrageinstituts Forsa, hält die Chancen der Grünen, in Reichweite des Kanzleramts zu kommen, für gering. „Die Grünen waren vor der letzten Bundestagswahl auf dem Weg, Wähler aus der politischen und gesellschaftlichen Mitte zu gewinnen“, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion. Inzwischen aber seien sie – auch durch Habecks Verschulden – zurückgeworfen auf ihre Kernklientel. „Jetzt von Kanzlerkandidaten zu sprechen, das dürften die Menschen eher lächerlich finden“, sagt Güllner. Die Alternative für die Partei sei, einen Spitzenkandidaten aufstellen, der dann, wenn sich die Chance bieten sollte, immer noch Kanzler werden könnte. „Doch diese Chance ist aus heutiger Sicht kaum gegeben.“

Versuchen will die Partei es trotzdem. Nachdem die Nachricht von Baerbocks Verzicht am Mittwochabend die Runde machte, scharten sich die Grünen um ihre Führungsfiguren, lobten einerseits Baerbocks Entscheidung als Teamplay und stärkten andererseits Habeck den Rücken.

Habeck sieht „große Chancen“, dass der Trend sich für die Grünen dreht

Auch wenn es kaum noch Zweifel gibt – ausdrücklich erklärt, dass er für die Grünen ums Kanzleramt kämpfen will, hat Habeck noch nicht, verweist auf die Gremien der Partei. Aus deren Reihen ist zu hören, dass eine offizielle Inthronisierung noch eine Weile dauern könnte. Irgendwann zwischen den Landtagswahlen im Herbst und dem Bundesparteitag der Grünen im November könnte es so weit sein.

Am Rande seiner Sommerreise zeigte Habeck sich am Mittwoch aber optimistisch, dass sich der Trend für die Grünen wieder drehen wird. Wie hoch er die Chancen sehe, dass seine Partei wieder in Richtung 20 Prozent kommen werde, wurde er da gefragt. „Große Chancen“, sagte Habeck und lächelt.