Essen. Offiziere nahe der ukrainischen Millionenstadt sollen ihre Pflicht vernachlässigt haben. Schon mehrmals gab es ähnliche Ermittlungen.

Leichen von Zivilisten und Soldaten liegen in den Straßen, Rauch steigt aus Ruinen auf. Luftaufnahmen aus Wowtschansk im Nordosten der Ukraine zeigen das Grauen, das über die Kleinstadt hereingebrochen ist, seit die russischen Streitkräfte vor etwas mehr als zwei Wochen die etwa vier Kilometer entfernte Grenze überschritten haben. Der lokale Vorstoß hat jetzt auch juristische Konsequenzen. Gegen 28 ukrainische Offiziere laufen Ermittlungsverfahren, weil sie die Befestigung der Verteidigungsstellungen an der Grenze zu Russland vernachlässigt und somit den russischen Vorstoß erleichtert haben sollen.

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In den vergangenen Monaten hatten Analysten und Militärs immer vor einem russischen Angriff in der Region Charkiw gewarnt. Es ist eine Region, über die die Kriegswalze bereits einmal gerollt ist. Direkt nach dem Beginn des russischen Überfalls im Februar 2022 waren die Truppen Moskaus bis in die zweitgrößte Stadt der Ukraine hineingestoßen, es kam zu Straßenkämpfen und einer Massenflucht der Einwohner der Stadt. Im Herbst 2022 konnten die ukrainischen Streitkräfte die Russen aus der Region heraus- und wieder zurück nach Russland drängen. Charkiw war nicht mehr in Reichweite der russischen Artillerie, die Lage in der Stadt entspannte sich, die meisten der Einwohner kehrten zurück.

Rauch steigt über einem alten sowjetischen Denkmal auf: In der Kleinstadt Wowtschansk haben sich die russischen Streitkräfte vorerst festgesetzt.
Rauch steigt über einem alten sowjetischen Denkmal auf: In der Kleinstadt Wowtschansk haben sich die russischen Streitkräfte vorerst festgesetzt. © Getty Images | LIBKOS

Ukraine-Krieg: Reserveeinheiten eilen in den Nordosten – Kalkül Russlands?

Seit Anfang des Jahres werden Charkiw und die Siedlungen nördlich und nordöstlich der Stadt wieder heftiger beschossen. Nachdem die Russen begonnen haben, in der russischen Region Belgorod Zehntausende Soldaten zusammenzuziehen, ist klar: Es braut sich etwas zusammen. Am 10. Mai überqueren die Russen die Grenze und stoßen in zwei Richtungen vor: nach Wowtschansk nordöstlich von Charkiw und in das nördlich der Stadt gelegene Dorf Lypzi. In den ersten Tagen gelingt den Russen die Eroberung mehrerer Dörfer, die allerdings nur noch aus Ruinen bestehen. Aus der Kleinstadt Wowtschansk, in der früher 17.000 Menschen lebten, fliehen die Menschen in Scharen, nur wenige Hundert bleiben. Ein Einwohner wird von den Russen auf der Flucht erschossen, berichtet der ukrainische Innenminister. Andere sterben durch Artilleriebeschuss.

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Der ukrainische Generalstab schickt eilends Reserven in den Nordosten, die Einheiten werden teilweise von Frontabschnitten im Süden und Osten abgezogen. Nicht wenige Beobachter glauben: Das ist das Kalkül der Russen. Sie beabsichtigen mit dem Vorstoß in Richtung Charkiw nicht die Eroberung der Millionenmetropole, was ein militärisch aussichtsloses Unterfangen wäre, sondern die Schwächung der ukrainischen Verteidigung an anderen Frontabschnitten. Es besteht jedoch die Befürchtung, die russische Artillerie könne wieder in Reichweite der Großstadt gelangen, was eine erneute Massenflucht auslösen könnte.

Der schnelle Vorstoß der Russen sorgt für viele Spekulationen in der Ukraine. In den Medien werden Vorwürfe laut, die dort stationierten ukrainischen Einheiten hätten die Verteidigung schlecht organisiert. Die britische BBC zitiert einen Offizier einer Aufklärungseinheit: „Entweder war es ein Akt der Fahrlässigkeit oder der Korruption. Es war kein Versagen. Es war ein Verrat.“ Die Behörden hätten behauptet, dass Schutzanlagen zu enormen Kosten gebaut worden seien, aber diese Anlagen seien schlicht nicht vorhanden gewesen. Tatsächlich wird der russische Vormarsch weder durch Minenfelder noch durch Befestigungsstellungen verlangsamt. Den Russen gelingen binnen weniger Tage Geländegewinne, für die sie im Osten Monate brauchen.

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Ukraine-Krieg: Auch die Russen ziehen womöglich neue Kräfte zusammen

Am Tag nach dem Beginn der russischen Offensive wird der für die Verteidigung der Region zuständige General Jurij Haluschkin abgesetzt. Oleh Synjehubow, der Gouverneur der Region, lässt sich von Baufirmen Bericht erstatten, warum beauftragte Befestigungsstellungen nicht vorhanden waren. Das staatliche Ermittlungsbüro der Ukraine leitet Ermittlungen gegen 28 kommandierende Offiziere ein, darunter gegen die Kommandoebene der 125. Brigade der Territorialverteidigung und der 23. mechanisierten Brigade. Der Vorwurf: „Nachlässigkeit im Militärdienst.“ Die Kommandeure hätten die Verteidigung nicht ordnungsgemäß organisiert, was zum Verlust von Soldaten, Stellungen und Ausrüstung geführt habe. Im Fall einer Verurteilung drohen den Offizieren Haftstrafen.

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Es ist nicht das erste Mal, dass nach russischen Vorstößen Ermittlungen aufgenommen werden. Nach dem Fall von Cherson wurden ebenfalls Vorwürfe gegen die für die Verteidigung Verantwortlichen laut. Die russischen Streitkräfte konnten die Regionalhauptstadt im Süden der Ukraine im März 2022 nahezu kampflos einnehmen. Über den aktuellen Stand der Ermittlungen ist nichts bekannt. Im November 2022 konnten die Ukrainer Cherson wieder befreien.

Die russische Offensive im Raum Charkiw gilt mittlerweile als gestoppt. Zwar kommt es noch immer zu heftigen Gefechten, insbesondere im nördlichen Teil von Wowtschansk scheinen sich die Russen festgesetzt zu haben. Allerdings gelingen ihnen seit Tagen keine weiteren größeren Geländegewinne mehr. Aktuell halten sich hartnäckig Gerüchte über eine geplante ukrainische Gegenoffensive, mit der die Angreifer wieder nach Russland zurückgedrängt werden sollen. Doch auch die Russen scheinen neue Reserven jenseits der Grenze zusammengezogen zu haben. Die Großstadt Charkiw wird weiter gnadenlos bombardiert. Am Samstag starben 16 Menschen, als Gleitbomben dort einen Baumarkt trafen.