Berlin. Die Russen kommen im Krieg langsamer voran. Angesichts fehlender Hilfe geht Militärexperte Masala mit dem Westen hart ins Gericht.
Herr Masala, wie sieht es an der ukrainischen Front aus?
Carlo Masala: Die Front scheint sich ein bisschen stabilisiert zu haben. Der russische Vormarsch konnte nicht aufgehalten, aber immerhin verlangsamt werden. Das heißt aber noch nicht, dass die Front damit stabil ist.
Muss die Ukraine dafür Soldaten von anderen Positionen abziehen?
Die Front wird eher stabilisiert durch die Verbesserung von Verteidigungssystemen. Es werden zwar Soldaten abgezogen, aber man sieht auch, dass die Russen langsamer vorankommen. Sie reagieren außerdem nicht flexibel, etwa indem sie andere Hauptstoßrichtungen eröffnen würden. Möglicherweise fehlen ihnen die Kräfte dafür.
Carlo Masala
Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.
Russland kommt nach jüngsten britischen Zahlen auf rund 510.000 Soldaten. Wie viele Soldaten bringt die Ukraine auf?
Das kann man nicht sagen, denn die Ukraine macht daraus ein riesiges Geheimnis.
Welche strategische Wahl hat die Ukraine jetzt bei der Verteidigung? Manche Beobachter sagen, Kiew müsse sich zwischen der Verteidigung der Front oder der kritischen Infrastruktur entscheiden …
Nein, das halte ich für Blödsinn. Sie müssen beides machen, das ist kein Entweder-Oder. Dafür brauchen sie Luftverteidigung. Europa ist hier gefragt, die nötigen Systeme und Munition zur Verfügung zu stellen. Außerdem müssen die Ukrainer ihr Personalproblem lösen.
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Muss man es Selenskyj vorwerfen, dass er die Frage der Mobilisierung auf die lange Bank geschoben hat?
Ja, in der Tat. Der Ruf nach einer erneuten Mobilisierung ist schon sehr alt. Schon Saluschnyj hat das gefordert. Selenskyj hat es lange hinausgezögert. Letztlich war das auch ein gutes Zeichen für die Demokratie, denn darüber ist viel diskutiert worden. Aber die Ukraine hat dabei viel Zeit verloren.
Deutschland bemüht sich zusammen mit anderen Partnern, Patriot-Systeme aufzutreiben. Es heißt, man suche danach. Was gibt es da zu suchen?
Ich verstehe es auch nicht und halte die Formulierung für sehr unglücklich. Es ist ja klar, wer welche Systeme hat. Die Griechen haben schon gesagt, sie geben nichts ab. Die Spanier geben nur ein paar Lenkflugkörper ab. Es ist ja schön, wenn jetzt zehn Staaten gemeinsam Patriots suchen wollen – noch schöner wäre es aber, wenn sie etwas abgeben würden.
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Was treibt Griechenland an?
Athen kann man sogar verstehen – die brauchen ihre Patriots mit Blick auf eine mögliche Bedrohung durch die Türkei. Umgekehrt gilt das genauso. Bei anderen Staaten erschließt es sich mir nicht.
Spanien will davon etwas bis Ende Juni liefern. Wird es dann zu spät sein?
Alles, was jetzt kommt, ist zu spät. Denken Sie nur an die Munition. All diese Dinge hätte man absehen können, man hätte sich vorbereiten können. Das hat man nicht gemacht.
Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski fürchtet, bis Ende des Jahres werde die Ukraine Charkiw verlieren, bis Mitte 2025 Odessa. Mitte 2026 werde sie einen Partisanenkrieg führen. Sehen Sie das auch so?
Ich würde es so nicht unterschreiben, denn ich würde solche Aussagen niemals mit Daten versehen. Aber die Gefahr, Charkiw und Odessa zu verlieren, ist real. Man sieht es am Kriegsgeschehen. Wenn sich die Ukraine nicht verteidigen und ihre Stellungen halten kann – und da spreche ich noch nicht einmal von Gegenoffensiven –, dann ist das natürlich ein realistisches Szenario.
Viele Osteuropa-Experten sind sich einig: Wenn man Putin jetzt nicht Einhalt gebietet, wird die Sicherheitslage für Deutschland und Europa dramatisch. Warum dringen sie damit nicht durch?
Warum sind wir denn im Jahr 2021 nicht damit durchgedrungen, als wir vor einer Vollinvasion der Ukraine durch Putin gewarnt haben? Man will so etwas nicht hören, weil man dann handeln müsste – und das würde hohe Kosten nach sich ziehen. Es ist einfacher zu sagen: Das ist alles Quatsch. Mein Argument ist ebenfalls: Wenn Russland gewinnt, werden die Kosten, die noch hinzukommen, viel höher sein als das, was wir jetzt ausgeben.
Auch das verfängt offenbar nicht …
Wir sind doch im Wahlkampf! Die Ukraine ist jetzt ein innenpolitisches Thema. Es stellt sich ein „Friedenskanzler“ im Europa-Wahlkampf zur Wahl, mindestens zwei Parteien werben mit Frieden statt Krieg … Meines Erachtens wird sich bis zur Bundestagswahl daran nichts ändern.
Wäre das nicht vor einem Jahr noch genauso gewesen?
Nein. Vor einem Jahr hätte man noch strategisch planen können. Inzwischen hat man aber eine Situation erreicht, in der die meisten Menschen keine Lust mehr auf die Unterstützung der Ukraine haben. Schauen wir noch mal auf die Diskussion zum Verteidigungshaushalt: Wenn die Schuldenbremse nicht gelockert wird, muss anderswo gespart werden. Darauf haben die Leute keine Lust.
Die Gefahrenlage durch Russland hat sich gegenüber dem Vorjahr kaum verändert …
Ja, aber als Bundesrepublik Deutschland wollen wir nicht, dass Russland militärisch verliert – wir wollen nur, dass sich die Ukraine verteidigen kann. Deswegen haben wir nie eine langfristige Strategie erarbeitet. Ganz Europa hat immer nur ad hoc reagiert, immer dann, wenn es eng wurde. Das hat lange Zeit auch funktioniert, bis Europa letztlich nichts mehr liefern konnte und die Produktion nicht hochgefahren werden konnte.
Der SPD-Abgeordnete Dietmar Nietan forderte die Opposition auf, wenn man Scholz für den falschen Kanzler halte, möge man doch bitte ein konstruktives Misstrauensvotum anstreben. Ein verrückter Vorschlag?
Ja, völlig bescheuert – er geht davon aus, dass es große Teile bei der SPD, der FDP und den Grünen gäbe, die gemeinsam mit der Opposition dem Kanzler das Misstrauen aussprechen würden. Wegen der Ukraine wird keiner diese Koalition platzen lassen.
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