Kiew. Russlands Angriffe auf die Energiesysteme werden heftiger. Schon bald droht überall Stromausfall. Der Ukraine läuft die Zeit davon.

Die russischen Angriffe auf die Energieversorgung der Ukraine nehmen massiv zu. Immer wieder werden Kraftwerke und Umspannanlagen getroffen. Noch herrschen milde Frühlingstemperaturen, der Energieverbrauch ist niedrig und die Versorgung in den allermeisten Privathaushalten läuft. Doch in den besonders heftig umkämpfen Gebieten wie in der Region Charkiw sieht es anders aus. Dort sind etwa 20.000 Menschen von der Stromversorgung abgeschnitten, in anderen Haushalten der Gegend kommt es zu größeren Ausfällen. Laut dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba sind mittlerweile 50 Prozent des Energiesystems beschädigt.

Betroffen sind neben Charkiw im Osten unter anderem Lwiw im Westen und die Region um Kiew. Dort wurde das Wärmekraftwerk Trypillja von zahlreichen Drohnen und Raketen getroffen und nahezu vollständig zerstört. Deswegen sind ukrainische Energiebetreiber fast täglich auf Stromimporte aus dem EU-Energiesystem angewiesen, deren Umfang bereits mehrfach Rekordwerte erreichte.

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Die Ukraine versucht vor allem, den Stromverbrauch ihrer Rüstungsindustrie sowie der kritischen Infrastruktur so weit es geht nicht einzuschränken. Für die sonstigen Industrieunternehmen und die Wirtschaft gelten Einschränkungen, die meist für die Zeit zwischen 18 und 22 Uhr angesetzt sind – den Zeitraum, in dem der Stromverbrauch bei Privathaushalten deutlich steigt. Deshalb ruft das Energieministerium die Menschen auf, vor allem abends den Verbrauch zu reduzieren.

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    Größere Stromausfälle dürften die Privatkunden aber spätestens im Sommer treffen. Dann steigt der Strombedarf wegen der Klimaanlagen und der sonstigen Kühlung enorm an.

    Doch Sorgen macht sich die Führung in Kiew um Präsident Wolodymyr Selenskyj vor allem mit Blick auf den kommenden Winter. Der könnte unter Umständen noch härter werden als die Phase zwischen 2022 und 2023. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer müssten im Modus drei Stunden mit Strom, drei Stunden ohne Strom leben. Bei den Angriffen vor eineinhalb Jahren verteilte Russland wöchentlich im Schnitt zwischen 50 und 60 Raketen und Drohnen quasi quer über das Land – und zielte weniger auf Kraftwerke selbst und mehr auf Transformatoren der Umspannwerke, um dafür zu sorgen, dass der Strom beim Endkunden nicht ankommt.

    Dieses Mal geht es Russland aber nicht nur um die Stromversorgung, sondern vor allem auch darum, gezielt Wärme- und Wasserkraftwerke anzugreifen. Dafür setzt die russische Armee unter anderem sehr teure ballistische und aeroballistische Raketen ein. Das geschieht überwiegend in den Regionen, die mit der Flugabwehr schlechter geschützt sind als zum Beispiel die Stadt Kiew.

    „Solch präzise und gezielte Angriffe auf Objekte der Energieinfrastruktur“ habe es seit Ausbruch des Krieges nicht gegeben, sagte die stellvertretende Energieministerin Switlana Hryntschuk gegenüber der ukrainischen BBC-Redaktion. Ähnlich sieht es DTEK, der größte private Stromanbieter der Ukraine. Fünf der sechs von DTEK kontrollierten Wärmekraftwerke wurden bisher ernsthaft beschädigt. Einige Kraftwerksblöcke wurden dabei völlig vernichtet, andere teilbeschädigt.

    Neben den Wärmekraftwerken sind auch Wasserkraftwerke das klare Ziel Russlands. So wurde im März DniproHES, das größte Wasserkraftwerk der Ukraine in Saporischschja, durch den russischen Beschuss vorerst betriebsunfähig gemacht. Die Reparatur könnte angeblich Jahre dauern.

    Fest steht jedenfalls, dass bei Weitem nicht die gesamte Wärme- und Wasserversorgung bis zum Winter wiederhergestellt werden kann. Und Energieexperten wie Andrian Prokip vom Ukrainischen Zukunftsinstitut glauben, dass auch die Schwierigkeiten mit der Stromversorgung nicht erst im Sommer auftreten werden. Bei unverändertem Verbrauchsverhalten könne es schon im Mai zu erheblichen Defiziten im System kommen – „und dann werden Ausfälle sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wirtschaft unvermeidlich sein“, meint er.

    Damit die Lage sich nicht bald dramatisch verschlechtert, unternimmt die Ukraine aktuell vor allem drei zentrale Anstrengungen. Die verstärkten Lieferungen der Flugabwehr an Kiew wurden von Außenminister Dmytro Kuleba zur Priorität Nummer eins für ukrainische Botschafter in westlichen Ländern erklärt. Dabei spielen die Systeme Patriot und SAMP/T eine zentrale Rolle. Doch viele westliche Länder wollten ihre Luftabwehrsysteme zunächst nicht abgeben – wobei mehrere Länder, darunter Spanien, inzwischen freigiebiger sind.

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    Auch der physische Betonschutz für Energieobjekte wäre wirkungsvoll. Er ist effektiv, solange es nicht einen direkten Raketentreffer gibt. Allerdings dauert der Bau eines solchen Schutzes im Schnitt sechs bis acht Monate pro Anlage.

    Ganz allgemein versucht die Ukraine darüber hinaus, ihr Energiesystem zu dezentralisieren. Die seit Längerem in den Städten installierten Solar- und Gaskraftwerke werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die ukrainische Rüstungsindustrie mit Strom versorgen können, aber wohl die Privatkunden – und das würde Atomkraftwerke für die Versorgung der Rüstung sowie der sonstigen Wirtschaft entlasten. „Wenn wir Hunderte von kleinen Kraftwerken haben, die sich in der Nähe der Verbraucher befinden, wird es für Russland unmöglich oder sehr teuer, Raketen auf all diese Kleinobjekte zu schießen“, sagt etwa Andrij Herus, Vorsitzender des Energieausschusses des ukrainischen Parlaments. Die Ukrainer hoffen, dass das bis zum Winter Wirklichkeit werden kann. Sicher ist es nicht.

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