Berlin.. Russland verfügt über gewaltige Reserven, und doch leeren sich die Lager mit Panzern. Kämpft Putin schon mit seinem letzten Aufgebot?

  • Die Ukraine hat viele russische Panzer abgeschossen
  • Russland hat aber große Reserven
  • Dennoch steht Putin vor einem Problem

Der Angriff auf Charkiw erweist sich als verlustreich. Darob ist unklar, ob die Russen in diesem Sommer überhaupt noch eine Großoffensive im Ukraine-Krieg stemmen können. Es ist eine Frage der Ressourcen.

Es hängt davon ab, wie viele Soldaten, Munition und Kriegsgerät sie mobilisieren wollen oder können, insbesondere Panzer. Ohne sie kann man sich eine solche Offensive nicht vorstellen, wiewohl sich im Netz Bilder und Videos von Infanteristen zu Fuß, in leichten Fahrzeugen oder auf Motorrädern häufen.

Ukraine-Krieg: das große Rätsel

In einem Abnutzungskrieg ist die Durchhaltefähigkeit zentral – in der Ukraine das große Rätsel. Das gilt für beide Seiten, im besonderen Maße für Russland. Erfahrungsgemäß muss der Angreifer mehr Kräfte und Material mobilisieren. Er trägt das größere Verlustrisiko.

Die Frage nach den Beständen ist in Wahrheit die Frage nach dem Ende des Krieges – ob und wann die Truppen von Kremlchef Wladimir Putin an der hohen Abnutzungsrate zugrunde gehen werden. Wie weit ist er von seinem letzten Aufgebot entfernt?

Er muss noch nicht mit dem letzten Aufgebot kämpfen: Kremlchef Wladimir Putin.
Er muss noch nicht mit dem letzten Aufgebot kämpfen: Kremlchef Wladimir Putin. © AFP | Vyacheslav Prokofyev

Die Antworten westlicher Militärökonomen lauten „zwischen Ende 2025 und 2027“, wie der Zürcher Wissenschaftler Marcus M. Keupp im ZDF erklärte. Die britische Denkfabrik Royal United Services Institute (RUSI) sagt voraus, im Laufe 2025 würden die materiellen Herausforderungen zunehmen. „Nach 2026 wird die Abnutzung von Systemen beginnen, die russische Kampfkraft erheblich zu verringern.“

Die gute Nachricht für die Ukraine ist, dass die Materialbestände des Gegners sinken. Zuletzt hat das ukrainische Militär beinahe täglich den Verlust von drei bis vier russischen Panzern gemeldet. Insgesamt kommt man in Kiew auf die gigantische Zahl von 8039. Belastbarer muten die Zahlen der Analyseplattform Oryx an. Sie zählt nur Zerstörungen, die durch Fotos oder Videos belegt sind.

Wann gehen Putin die Panzer aus?

Oryx kommt (Stand: 02.07) auf 3180 Panzer: zerstört, beschädigt, aufgegeben, erbeutet. Eine gewaltige Zahl. Erst recht, wenn man sie mit den Schätzungen des russischen Arsenals zu Kriegsbeginn vergleicht: knapp 3000 russischen Kampfpanzern. Die Zahl der ukrainischen Verluste werden übrigens mit 858 angegeben.

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Zahlen haben häufig eine Unschärfe. Mal werden Kampf- und Schützenpanzern und gepanzerte Fahrzeuge getrennt gezählt, mal addiert, in den Wirren des Krieges auch mal doppelt. Ohnehin lässt sich nicht jeder Verlust zweifelsfrei dokumentieren. Auffällig ist die Differenz zwischen den ukrainischen und den unabhängigen Zahlen. Unterm Strich sind die 3000 Panzer erst mal eine realistische Mindestannahme. Offenkundig ist, dass die russische Dominanz schon mal größer war.

Ukraine-Krieg - Gebiet Donezk
In der Ukraine entwickelt sich ein Zermürbungskrieg. Die russische Abnutzungsrate ist groß. Wie schnell werden sich wohl die Lager leeren. © DPA Images | Evgeniy Maloletka

Wie groß sind die Lagerbestände?

Die schlechte Nachricht für die Ukraine ist allerdings, dass sie nur die Zahl der Panzer damals im Einsatz abbildet. Sie gibt nicht die Lagerbestände wieder und blendet aus, dass Russland die Produktion angekurbelt hat. RUSI geht davon aus, dass „80 Prozent der Panzer und anderen gepanzerten Kampffahrzeuge keine Neuproduktion sind“. Es sind eingemottete Panzer, die aufgearbeitet und modernisiert werden: ein Gitter zum Schutz vor Drohnen, ein Update der Software, eine verstärkte Panzerung.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Im Netz kursieren Satellitenbilder von gigantischen Waffenlagern, meist hinter dem Ural. Die Standorte sind kein Zufall. Anfang der 90er-Jahre wurde der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) geschlossen. Er legte Obergrenzen für die Anzahl schwerer Waffensysteme fest – vom Atlantik bis zum Ural.

Große Lager hinter dem Ural

Die Russen verschrotteten ihre alten Panzer nicht, sondern lagerten sie jenseits des Urals, beispielsweise in Jarkowo oder Toptschicha in Sibirien. Dort wurden sie dicht an dicht geparkt, selten in Garagen, meist draußen, also ungeschützt, der Witterung ausgesetzt und – per Satellit gut zu sehen. Es gibt Vorher-nachher-Bilderleisten, 2020 und 2024. Unübersehbar: die Lücken.

Die Satelliten sehen, dass beispielsweise in einem Lager nahe der finnischen Grenze fast alles abgezogen wurde, so Keupp. „Das passiert gerade überall in Russland“, sagte er der „FAZ“, „Russland lebt von seinen Reserven.“ Das bedeutet auch, dass immer älteres und schlechteres Material in die Kampfzone kommt.

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Man schätzt, dass die Zahl der alten Panzer zu Beginn des Krieges bei etwa 10.000 lag. Auf den Aufnahmen erkennen Experten meist Panzer der Typen T-64, T-72 und T-80, also aus der Sowjetzeit, teils ziemlich veraltet. Was man schlecht erkennen kann, ist der Verbleib und der Zustand der Fahrzeuge.

Kampfpanzer T-14 Armata bei der Militärparade in Moskau
Der T-14-Armata-Panzer: Bella figura auf dem Roter Platz, aber rar auf dem Schlachtfeld. © DPA Images | Alexander Zemlianichenko

Wurden sie abgezogen und im Krieg eingesetzt und zerstört? Oder wurden sie lediglich verlegt? Sind sie fahrtüchtig? Kann man sie instand setzen? Oder sind sie dazu da, um ausgeschlachtet zu werden? Eine plausible Annahme ist, dass die Russen zunächst auf die besterhaltenen Panzern zurückgegriffen haben dürften. Verständlich wird, warum die Ukraine alles daran setzt, aufgegebene und liegen gebliebene Panzer mit Drohnenangriffen zu zerstören: Um eine Instandsetzung zu verhindern.

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Die Ukrainer schätzen, dass die Russen noch über 4500 brauchbare Panzer in der Reserve und 2000 im Einsatz haben. Das ist immer noch eine gewaltige Streitmacht. Zum Vergleich: Nach Angaben des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr verfügt die Nato in Europa über knapp 1600 Kampfpanzer.

Es werden auch neue Panzer produziert, meist vom Typ T-90 M und nicht etwa vom hochmodernen Armata, der erstens teuer und sich zweitens mit Kinderkrankheiten plagt. Die Gesamtzahl der jährlichen Neufahrzeuge lässt sich schwer beziffern, wahrscheinlich liegt sie im Hunderter-Bereich.

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Russland lebt von der Substanz

Glaubhaft ist, dass Russlands die Panzerfabrikation massiv verstärkt hat, dass Schichten erhöht, Produktionslinien erweitert und stillgelegte Anlagen wieder in Betrieb genommen wurden. Die Fachleute von RUSI schätzen, dass Russland seinen Streitkräften jährlich etwa 1500 Panzer bereitstellt, überwiegend durch Instandsetzungen. Das reicht, um die Verluste zu kompensieren.

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Das Schweigen der russischen Kriegsgefangenen

Im Krisenmodus

Wenn die Ukraine jeden Tag drei bis vier Panzer zerstört, fallen die Vorräte irgendwann auf einen kritischen Stand, spätestens in fünf Jahren. Die Produktion von neuen Panzern winkt dem Kriegsbedarf hinterher, auch weil vermutlich langsam Komponenten fehlen. Wie lange beide Seiten durchhalten können, hängt von vielen Faktoren ab:

  • Wem gelingt es am besten, die industriellen Kapazitäten hochzufahren?
  • Bekommt Russland vom Iran oder Nordkorea schweres Kriegsgerät?
  • Kann die Ukraine ihre hohe Abschussrate aufrechterhalten?
  • Verstärkt der Westen die Lieferung mit hochpräzisen modernen Waffen?
  • Sehen Putins Generäle von verlustreichen Großoffensiven ab?

China wäre ein Gamechanger

Offensichtlich ist, dass Russland nicht mehr auf eine massive materielle Überlegenheit setzen kann wie noch zu Beginn des Waffengangs. Die bisherige Kriegsführung war nicht nachhaltig. Die Situation würde sich komplett verändern, wenn die Großmacht China bereit wäre, Russland aufzurüsten. China wäre ein Gamechanger.

„Wir werden sehen“, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Beim jüngsten G7-Treffen verriet Selenskyj, er habe mit Chinas Staatschef Xi Jinping telefoniert. „Er sagte, dass er keine Waffen an Russland verkaufen wird“, so Selenskyj. „Er hat mir sein Wort gegeben.“

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