Berlin. Durch die russische Offensive auf die Stadt steht die ukrainische Armee stark unter Druck – doch Ziel könnte nicht die Eroberung sein.

Er gehört zu den bekanntesten Militärexperten in Deutschland: Carlo Masala. Der 54-Jährige lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Ukraine-Krieg.

Herr Masala, zunächst ein Blick an die Front: Wie ist die Lage rund um Charkiw und im Osten der Ukraine?

Carlo Masala: Die Informationen sind widersprüchlich. Den Russen sind in grenznahen Regionen aber mehrere Erfolge gelungen. Eine sogenannte graue Zone, also eine Pufferzone zwischen der Ukraine und Russland, erweitert sich beständig.

Auf russischer Seite werden aktuell viele Soldaten zusammengezogen …

Die Rede ist von 30.000 Mann. Das ist eine beträchtliche Anzahl für diesen Krieg. Dieser Hauptschwerpunkt führt auch dazu, dass die Ukraine gezwungen wird, Kräfte von anderen Stellen der Front abzuziehen. Die Frage ist: Was sollen die russischen Streitkräfte dort erreichen? Versuchen sie, Charkiw zu erobern? Das halte ich momentan für ausgeschlossen. Ist es der Versuch, so weit an die Stadt heranzurücken, dass man sie mit Artillerie beschießen und zerstören kann? Das halte ich für wahrscheinlicher. Denn dann könnte man die Menschen in der Stadt zur Flucht zwingen. Was da genau passiert, können wir aktuell nicht beurteilen.

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Selenskyj sagt, die Ergebnisse der Ukrainer würden besser …

Wenn ich das richtig sehe, sind die Ukrainer am Montag mit einer versuchten Gegenoffensive gescheitert. Die Russen haben mehr Stellungen erobert, den Ukrainern gelang es nicht, sie zurückzudrängen. Selenskyjs Aussage würde ich deshalb nicht unterschreiben.

Brennendes Haus in Charkiw: Die russische Großoffensive in der Ostukraine hat begonnen.
Brennendes Haus in Charkiw: Die russische Großoffensive in der Ostukraine hat begonnen. © DPA Images | -

Charkiw kommt als zweitgrößter ukrainischer Stadt eine große Symbolkraft zu. Was würden Sie sich akut vom Westen wünschen?

Der Westen kann im Moment wenig tun. Das, was die Ukraine braucht, ist in der Produktion. Es geht um Munition, Luftverteidigung und Raketen mit längerer Reichweite. Das kann der Westen in großen Stückzahlen derzeit nicht liefern

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Putin hat seinen bisherigen Verteidigungsminister Sergej Schoigu entlassen und den Wirtschaftsexperten Andrej Beloussow in das Amt gehoben. Analysten sehen darin eine noch stärkere Fokussierung auf Kriegswirtschaft. Wie schätzen Sie den Schritt ein?

Das sehe ich genauso. Beloussow ist eine eher technokratische Figur, die in ihrer bisherigen Funktion sehr erfolgreich war. Putin räumt jetzt hier auf. Noch ein Beispiel: Am Montag wurde der Leiter der Personalabteilung im Verteidigungsministerium verhaftet. All das deutet darauf hin, dass sich Russland auf eine lange Phase des Krieges und der Aufrüstung vorbereitet – gegen die Ukraine, aber auch mit dem Westen.

Carlo Masala

Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.

Die USA bezeichnen den Schritt als „Anzeichen für Putins Verzweiflung“ über die hohen Kosten des Krieges …

Diese Interpretation teile ich nicht. Interessant finde ich allerdings, dass in dem Personalkarussell des innersten Kreises wenig neue Gesichter auftauchen. Putin entlässt keine Leute, sondern schiebt sie lediglich auf andere Positionen.

Hat der russische „Tag des Sieges“ in der vergangenen Woche Sie überrascht?

Er hat noch einmal deutlich gezeigt: Russland ist – so die eigene Perspektive – umfassend im Krieg mit dem Westen. Es legt immer mehr die Grundlagen dafür, um diesen Krieg zu führen. Das muss nicht zwingend ein militärisch geführter Krieg sein. Aber der Umbau der russischen Wirtschaft zu einer Verteidigungswirtschaft, die Ernennung des neuen Verteidigungsministers, die Rhetorik vom Konflikt mit dem vermeintlich dekadenten Westen – das alles hören wir seit Langem.

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Könnte es Luftverteidigung von Nato-Gebiet aus geben? Wie könnte das aussehen?

Man könnte die Luftverteidigungssysteme, die auf Nato-Gebiet stationiert sind, dazu nutzen, russische Raketen beim versuchten Angriff auf ukrainische Städte abzuschießen. Damit würde die ukrainische Luftverteidigung entlastet werden – die wird wegen des Munitionsmangels immer schlechter. Es würde auch die Zivilbevölkerung besser schützen.

Halten Sie den Vorschlag für sinnvoll?

Natürlich ist er das. Die kritische Infrastruktur und die Bevölkerung leiden zunehmend unter den Schwächen der ukrainischen Luftverteidigung.

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Aber ist er auch realistisch?

Nein, überhaupt nicht. Die Bereitschaft dazu ist nicht da. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat das abgelehnt. Kaum ein Staatsmann hat sich für diese Idee ausgesprochen. Angesichts der Zögerlichkeit des Westens und der Akzeptanz der roten Linien Russlands sehe ich dafür keine Chance.

Wäre das ein westlicher Eingriff in den Krieg?

Das schon. Aber völkerrechtlich gesehen würde es den Westen nicht zu einer Kriegspartei machen. Das wäre völlig sauber. Denken Sie nur an Israel: Die USA und Frankreich haben dem Land geholfen, iranische Drohnen abzuwehren. Würde Putin im Fall einer solchen Raketenabwehr auf den Westen reagieren? Kann sein, aber aus Putins Sicht sind wir schon lange Kriegspartei. Diese beiden Ebenen muss man auseinanderhalten.