Washington. Was die Entscheidung konkret bedeutet und warum Deutschland eine zentrale Rolle spielt. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wenn der Senat in Washington die historische Ukraine-Hilfe-Entscheidung des Repräsentantenhauses am Dienstag bestätigt und PräsidentJoe Biden das 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket am selben Tag per Unterschrift rechtskräftig werden lässt, beginnt das Rennen gegen die Uhr.

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Um den an der Front gegen Russland materiell zuletzt massiv ins Hintertreffen geratenen ukrainischen Truppen militärisch wie moralisch neuen Schub zu geben, sollen bereits Ende der Woche die ersten Transporte mit Munition und Luftabwehr-Raketen Richtung Kiew geschafft werden. Dabei richten sich alle Blicke auf Wiesbaden. Die wichtigsten Details auf einen Blick:

Warum spielt Deutschland eine zentrale Rolle?

In Wiesbaden ist die unter dem Europa-Kommando des Pentagon stehende „Security Assistance Group-Ukraine” (kurz SAG-U) stationiert, die mit 300 Mitarbeitern operiert. Dieses Kommando wird dem Vernehmen nach zunächst aus Beständen auf US-Militärbasen in Deutschland, Polen und anderen Nato-Staaten die ersten Lieferungen tätigen.

Wie General-Major Patrick Ryder, der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Washington, sagte, verfüge man dort über ein „sehr robustes Logistik-Netzwerk, das uns erlaubt, Güter sehr schnell zu transportieren“. So seien etwa bestimmte Haubitzen, die von der Ukraine häufig eingesetzt werden, quasi sofort lieferbar. Von den 60 Milliarden Dollar gehen rund 20 Milliarden an die „Security Assistance Group“.

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Was braucht die Ukraine am dringendsten?

Artilleriegeschosse mit Nato-Kaliber 155 Millimeter, Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ HIMARS, Mittelstrecken-Raketen vom Typ ATACMS, Kampfjets vom US-Typ F16 und vor allem Patriot-Abwehrsysteme. Die Ukraine verfügt derzeit über drei Patriot-Batterien. KanzlerScholz hat eine vierte aus Deutschland in Aussicht gestellt. Die Ukraine sagt, sie brauche 26, um das ganze Land zu sichern.

Russische Raketen werden von der Region Belgorod aus auf die Ukraine abgefeuert. Die Ukraine benötigt im Kampf gegen Russland neben Abwehrsystemen auch Artilleriegeschosse und Raketen. Am meisten mangelt es jedoch an Munition.
Russische Raketen werden von der Region Belgorod aus auf die Ukraine abgefeuert. Die Ukraine benötigt im Kampf gegen Russland neben Abwehrsystemen auch Artilleriegeschosse und Raketen. Am meisten mangelt es jedoch an Munition. © DPA Images | Evgeniy Maloletka

Wo ist der Druck für die Ukraine am größten?

Eindeutig bei der Munition. Hier fehlt es an allen Ecken und Enden. Neben den Vorräten in Europa könnten hier die riesigen US-Bestände helfen. Die sich über 70 Quadratmeilen ausdehnende McAlester-Munitionsfabrik der US-Armee im Bundesstaat Oklahoma wäre auf Anweisung des Weißen Hauses in der Lage, auf einen Schlag 435 Schiffscontainer mit jeweils 15 Tonnen Munition zu befüllen.

Insgesamt reichen die Produktionskapazitäten in den USA aber kaum aus. Außerdem dauert die Herstellung lange. In Scranton/Pennsylvania werden erst schwere Stahlbarren in leere Projektile gezwängt. Danach werden sie ins ländliche Iowa transportiert, wo der Zündstoff beigefügt wird. Hersteller General Dynamics stellt laut Pentagon monatlich etwa 30.000 Geschosse her. Vor dem Krieg in der Ukraine waren es 14.000.

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Wie ist die militärische Gesamtlage?

Die Ukraine kontrolliert trotz Gebietsverlusten im Umfang von rund 330 Quadratkilometern (etwa der Fläche Dresdens) immer noch 80 Prozent ihres Territoriums. Allerdings: 200.000 ukrainischen Soldaten stehen an der Front geschätzte 470.000 Russen gegenüber, heißt es in Kreisen des US-Verteidigungsministeriums. Wie General Christopher Cavoli, der Top-Kommandeur der US-Truppen in Europa, kürzlich im Verteidigungsausschuss sagte, sei die russische Armee heute – trotz 315.000 toten Soldaten – um 15 Prozent größer als bei der Invasion in die Ukraine im Februar 2022. Dazu seien die Russen militärisch fähiger als damals.

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Wie wird Russland reagieren?

Der Kreml tat die Entscheidung in Washington erwartungsgemäß ab. Amerika werde immer tiefer in einen hybriden Krieg mit Moskau gezogen, erklärte das Außenministerium, und sagte Washington ein Desaster wie in Vietnam oder Afghanistan voraus. Ukrainer würden dabei als Kanonenfutter missbraucht. Unterdessen erwarten Militäranalysten in Washington eine kurzfristige Intensivierung der russischen Angriffe, um vor Eintreffen der neuen US-Militärgüter möglichst großen Schaden etwa mit Drohnen und Gleitbomben anzurichten. Dabei sind Energieanlagen und andere wichtige Infrastrukturbereiche bevorzugte Ziele. Die Rede ist zudem von einer Großoffensive auf die zweitgrößte Stadt Charkiw.

Was bedeutet die Pro-Ukraine-Entscheidung für die politischen Machtverhältnisse im US-Kongress?

Die radikalen Gegner um die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene haben sich als schlechte Verlierer erwiesen. Sie machen weiter rhetorisch Front gegen Biden, die Demokraten und „Verräter” in den eigenen Reihen. Mit einem schnellen Machtkampf an der Spitze der Republikaner ist aber nicht zu rechnen. Taylor Greene und zwei Mitstreiter (die Abgeordneten Massie und Gossar) verzichteten darauf, direkt am Samstag den Antrag auf Abwahl des Sprechers des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, zu stellen.

Jetzt also doch: Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, ließ nach monatelanger Blockade über die Ukraine-Hilfen abstimmen. Das Repräsentantenhaus bewilligte 95 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern für die Ukraine, Israel und andere US-Verbündete.
Jetzt also doch: Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, ließ nach monatelanger Blockade über die Ukraine-Hilfen abstimmen. Das Repräsentantenhaus bewilligte 95 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern für die Ukraine, Israel und andere US-Verbündete. © DPA Images | J. Scott Applewhite

Ohne dessen 180-Grad-Kehrtwende vom Ukraine-Gegner zum Ukraine-Helfer hätte die Abstimmung nicht stattgefunden. Greene erklärte, ihre Fraktionskollegen sollten die Stimmung an der Basis einholen. Kritiker der Abgeordneten aus Georgia halten das für vorgeschoben. Als wahrer Grund sei die Furcht vor einer Schlappe anzunehmen, sagen moderate Konservative. Die Demokraten, die nur noch wenige Sitze von der Mehrheit im „House“ trennen, hatten signalisiert, dass sie gegen alle Gepflogenheiten Johnson im Fall eines Abwahlmanövers stützen würden, wenn denn das Ukraine-Paket hundertprozentig sicher ist.

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Ist der Widerstand gegen die Ukraine-Hilfe rechts der politischen Miete nun dauerhaft gebrochen?

Nein. Die Meinung, dass Amerika für ein fernes Land nicht mehr so viel Geld ausgeben soll, ist nach wie vor stark im konservativen Lager vertreten. Über 110 republikanische Abgeordnete, mehr als die Hälfte der Fraktion, haben gegen das Hilfspaket gestimmt. Trump hat zwar gesagt, dass ukrainischer Widerstand gegen Russland im Interesse der nationalen Sicherheit Amerikas sei. Wie lange die Halbwertzeit dieser Aussage ist, muss sich aber noch zeigen.

Viele Republikaner ignorieren schlicht, dass über ein Drittel des Hilfspakets in die US-Rüstungsindustrie geht und damit amerikanische Arbeitsplätze sichert. Der als Vize-Präsidentschaftskandidat gehandelte Senator J.D. Vance aus Ohio, wo etwa Abrams-Panzer hergestellt werden, sagt, dass weitere Militärlieferungen einem Friedensschluss im Wege stünden und einen „blutigen Krieg unnötig verlängern“.

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    Was bedeutet die US-Entscheidung für Europa?

    Der Druck, militärisch in jeder Hinsicht noch mehr zu tun, wird größer. Präsidentschaftskandidat Donald Trump fragt bei jeder Gelegenheit, warum Europa nicht genau so viel Geld für Kiew bereitstelle wie Amerika. Das Vorurteil hält sich hartnäckig. Dabei haben Wirtschaftsinstitute dies und jenseits des Atlantiks errechnet, dass die EU samt weiterer europäischer Länder der Ukraine bisher knapp 125 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben. Fast doppelt so viel wie die USA, die bis heute auf knapp 65 Milliarden Dollar kommen.