Als bekannt wurde, dass an seinem Wohnort in Poppenbüttel eine Unterkunft gebaut werden soll, begann Jan Melzer ein Tagebuch zu schreiben.
Tag 21 – 340 am Tag
Heidewitzka, Herr Kapitän, Angriff der Killerzahlen! Die neue Völkerwanderung hat begonnen: 340 kommen mittlerweile am Tag nach Hamburg. 12.000 im ersten halben Jahr, was schon mehr sind als im gesamten Jahr 2014. Menschenunwürdige Zustände. Wohncontainer ausverkauft. Die Bundeswehr hilft mit Zeltstädten. Wilhelmsburgs Erstaufnahme wird spontan um 1500 Plätze aufgestockt, sodass dem Bezirksamtsleiter der Kragen platzt, Italien und Griechenland können die Last der Neuankömmlinge nicht mehr bewältigen und so weiter und so fort.
Was ist da los? Ich schüttele mich. Plötzlich ist unsere Folgeunterbringung in Poppenbüttel nur ein Rad im Getriebe. Anscheinend hat sich der Weltgeist das Jahr 2015 ausgesucht, um die große Umwälzung zu starten, als hätten die Flüchtlinge alle an der Grenze zu Hamburg auf ein Zeichen gewartet. Das stimmt natürlich nicht, der Strom fließt ja bereits das ganze erste Halbjahr. Ich glaube sowieso nicht an solche Theorien und lese auch prompt in einem Artikel: Bisher hat die Stadt versucht, die Flüchtlinge lautlos unterzubringen. Das – und das ist die Erklärung für die plötzliche Veränderung – geht nun so nicht mehr. Die Zahl ist einfach zu groß.
Furchtbar, dieses Elend in der Welt. Die Menschheit spinnt! Manchmal schämt man sich, ein Teil dieser Gattung homo „sapiens sapiens“ (sapiens: lateinisch für vernunftbegabt … und das auch noch doppelt!! Har har!) zu sein und nicht stattdessen – sagen wir mal – ein Delfin.
Eine Leserin schrieb mir: Wir können doch nicht ganze Kontinente aufnehmen!
Zack! Luft raus. Wir können tatsächlich nicht ganze Kontinente aufnehmen. Sie hat vollkommen recht. Und nun? Mauer hoch? Oder in Syrien einmarschieren und Assad und den IS zwingen, die Leute in Ruhe zu lassen?
Was für ein fürchterliches Dilemma. Plötzlich fühle ich mich bei unseren Politikern ganz gut aufgehoben, die versuchen, nur eine uns zumutbare Menge aus dem Elend durchzulassen. Wenn wir ehrlich sind, machen die das schon ganz anständig. Denn: Ja, wir können nicht ganze Kontinente aufnehmen. Aber ist das ein Grund, niemanden aufzunehmen? Ist es sinnlos, einem Sterbenden die Schmerzen zu lindern, weil ich ihn eh nicht heilen kann? Ich weiß, das ist ein schräger Vergleich, aber das logische Prinzip ist das Gleiche: Ist es sinnlos, im Kleinen zu helfen, wenn man das Große und Ganze nicht bewältigen kann?
Ich meine: Jeder geputzte Vogel aus einer Ölpest ist es wert, auch wenn man nicht den ganzen Ölteppich beseitigen kann.
Also helfen wir denen, die uns die Politik zumutet, und warten geduldig ab, was noch auf uns zukommt. Angela Merkel würde sagen, wir müssen auf Sicht fahren. Ich finde, sie hat recht.
Tag 22 – Lange Reihe, HafenCity, Olympia
Ich fahre durch die Lange Reihe zum Hauptbahnhof. Endlich ist sie wieder offen, denn ich parke, wenn wir mit LaLeLu auf Zug-Tour gehen, gerne im Parkhaus hinter dem Schauspielhaus. Schön ist sie geworden, die Lange Reihe. Schön? Was habe ich nicht alles gelesen, wie katastrophal das Busbeschleunigungsprogramm quasi die ganze Stadt in Schutt und Asche legt. Man kann den Bus nicht mehr überholen. Huuuuu! Armageddon! An der Fuhle habe ich mich über die Fahrradwege gefreut: Plötzlich ist ein buntes Verkehrsleben zu sehen, das es so nicht gab. Auch hier vorher: Untergang des Abendlands. Verkehrsinfarkt. Und so geht es weiter in dieser Stadt: Elbphilharmonie, HafenCity, Nolympia, Flüchtlingsheime.
Leute, was soll bloß diese apokalyptische Hysterie? Geht es nicht eine Nummer kleiner?
Wie wäre es denn mal, das Neue mit offenen Armen und staunenden Augen auf sich zukommen zu lassen? Vielleicht wird die Elbphilharmonie richtig geil, vielleicht geht es nach Olympia mit ganz Hamburg steil bergauf (ganz zu schweigen von den Milliarden, die nach Hamburg fließen würden, die es ohne Olympia nicht gäbe), vielleicht sieht die Fuhle einfach schöner aus mit den Fahrradstreifen. Und vielleicht bereichern uns die ganzen Flüchtlingsheime in Hamburg ja.
Abwarten und Tee trinken, das fände ich hanseatisch. Und wenn’s Probleme gibt (ich bin nicht naiv!), dann, ja DANN können wir reagieren. Mein Vater hat gesagt, er freue sich auf die „Raps-Indianer“, die brächten Farbe nach Poppenbüttel. Das ist zwar schräg ausgedrückt, aber ich finde das süß. Ich weiß, wie er das meint. Er ist mein Vater.
Tausende bei Abendblatt-Spendenaktion
Tag 23 – Grillen mit Freunden
Grillabend in der Casa Melzer. Man merkt auch hier: Das Thema ist allgegenwärtig. Mein Satz „Dieses Thema kann Freundschaften zerstören“ ist auf ein großes Echo gestoßen. Ich freue mich daher berichten zu können, dass mein Freundeskreis trotz sehr unterschiedlicher Meinungen bisher keinen Schaden genommen hat.
Ein guter alter Freund legt zum Beispiel Gewicht auf den Wertverlust unserer Immobilien durch das Flüchtlingsheim. Ich horche auf, seine Argumente sind gut: Poppenbüttel ist eine ruhige, grüne Wohngegend, die man nicht geschenkt bekommt, für die man sich strecken muss (solange man nicht erbt). Er sagt, er hätte auch Handwerker bleiben können, ohne Studium und Firmenkarriere, aber dann würde er nicht hier leben. Interessanterweise bestätigt am nächsten Tag ein Poppenbütteler Dienstleister, mit dem ich öfter zusammenarbeite, genau diese Denkart: Er habe damals auch in Poppenbüttel wohnen wollen wegen der Fußläufigkeit zur Arbeit, konnte es sich aber nicht leisten (heute lebt er glücklich auf dem Land).
Mein Freund ergänzt, dass er es bedenklich fände, wenn die Flüchtlinge als ersten Eindruck ausgerechnet unseren wohlhabenden Stadtteil sähen und dadurch eine falsche Wahrnehmung von Deutschland bekämen. Deutschland sei nicht nur das Land, in dem Milch und Honig fließen (bzw. Latte macchiato und Prosecco), sondern auch ein Land mit Steilshoop und Neuallermöhe. Hier kann ich ihm nicht mehr folgen: Ist es relevant, ob man nach seiner Flucht einen dicken Mercedes-SUV vorbeifahren sieht, den ich mir im Übrigen auch nicht leisten kann? Müssen wir den Flüchtlingen verheimlichen, dass Deutschland das fünftreichste Land der Welt ist? Geht das überhaupt? Und noch einmal: Ist das relevant? Kriegt der Flüchtling in Mümmelmannsberg eher den Impuls, nach dem Krieg in seine Heimat zurückzukehren als in Lemsahl-Mellingstedt? Ist das nicht auch ein bisschen gemein den Mümmelmannsbergern gegenüber? Hier geht es um das Belohnungsprinzip der Marktwirtschaft: Wenn du etwas leistest, kommst du nach Poppenbüttel, bei etwas mehr nach Pöseldorf und ganz vielleicht nach Blankenese. Erklärt das den Zorn in diesen Stadtteilen, der zur Klage in Harvestehude geführt hat und – weit schlimmer – dazu, dass die Bezirksbeamten bei der Informationsveranstaltung in Duvenstedt mit Polizeischutz das Gebäude verlassen mussten?
Ich kann mir diese Frage nicht abschließend beantworten und stelle mal verschiedene Aspekte zur Diskussion: Dürfen Flüchtlinge einen Stadtteil geschenkt bekommen, den wir uns erarbeiten mussten? Ist ein Flüchtlingsheim so etwas wie eine Sondermülldeponie, die den ganzen Stadtteil zerstört? Gehört uns der Stadtteil überhaupt? Kauft man eine Umgebung mit (es gibt ja so etwas wie den „Verkehrswert“ einer Immobilie)? Oder einfach nur das Haus mit dem Garten?
Streit um Flüchtlinge im Alstertal
Mir raucht mal wieder der Kopf. Ich denke auch, dass wir ja nicht nur Poppenbütteler, sondern auch Hamburger sind und deshalb auch ein wenig Verantwortung für die ganze Stadt tragen. Vielleicht sind alle unsere Bedenken legitim, müssen sich aber dem höheren Interesse beugen. Ich merke, dass es mir leichter fällt, für fünf bis zehn Jahre unsere Nachbarschaft für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, als die Festbauten zu akzeptieren, die dann für immer unser Viertel verändern.
Apropos:
Tag 24 – Festbauten
Ich bekomme eine interessante E-Mail. Ich möchte mich an dieser Stelle für die vielen E-Mails bedanken. Ihr Zuspruch ist wirklich phänomenal und gibt mir das Gefühl, dass wir im Grunde alle an einem Strang ziehen. Zurück zur Mail: Eine Dame aus der Umgebung hat anscheinend Kontakte zur Behörde und überschüttet mich mit Dokumenten. Vieles kenne ich schon, aber immer wieder taucht die Planung der Festbauten am Ende der Folgeunterbringung mit mobilen Containern auf. Ziemlich deutlich geht aus diesen Dokumenten hervor, dass „fördern und wohnen“ die Festbauten betreiben wird. „fördern und wohnen“? Das sind doch die, die die Flüchtlingsheime betreiben! Wieder fängt die Kakophonie an. Werden es doch mehr als 500? Bleibt es für alle Zeiten ein Flüchtlingsheim? Bitte, ihr Damen und Herren vom Senat, gebt uns endlich feste, ehrliche und belastbare Fakten! Die Unsicherheit muss aufhören. Wir lernen gerade, uns hier in Poppenbüttel zu arrangieren. Da ist jede Verwirrung ausgesprochen kontraproduktiv. Milde gesagt.
Tag 25 – Beistand aus Billstedt
Wieder einmal werde ich beschämt. Dazu muss man Folgendes über mich wissen: Bis zu meinem neunten Lebensjahr bin ich in Billstedt aufgewachsen, Schiffbeker Weg, direkt am Schiffbeker Friedhof, und der Umzug nach Poppenbüttel war eine Art Aufstieg für uns (auch wenn ich die Klassengemeinschaft in meiner Grundschule in Horn zehnmal besser fand als in Popptown).
Jetzt erwische ich mich des Öfteren bei dem Gedanken: Wie können die nur Festbauten als Sozialwohnungen nach den Flüchtlingscontainern hier planen, da hätten wir ja gleich in Billstedt bleiben können! Und mitten in diesen arroganten Gedanken erreicht mich diese E-Mail:
„Hallo Jan, gern lese ich Ihr Tagebuch im HA! Diese Jas und Neins kenne ich. Es ist bestimmt schwer für Euch Poppenbütteler! Da haben wir Billstedter es leichter! Ich selbst arbeite ehrenamtlich in einer Unterkunft am Mattkamp. Dort haben wir ein Frauencafé organisiert, zudem betreue ich noch Menschen im Kirchenasyl. Mich bereichert diese Arbeit. Die Begegnungen mit diesen Menschen erden mich. Die leben teilweise unter gruseligen Bedingungen und sind dennoch dankbar – weil sie keine Angst mehr haben müssen! Manche Berichte über die Erlebnisse der Flucht sind kaum auszuhalten. Die Unterkunft am Mattkamp steht auch zwischen den Feldern, Öjendorfer Park und Friedhof. Es geht!!! Nur Mut!!! Gabriele“
Liebe Gabriele, ich bin als ehemaliger Billstedter tief berührt. Danke. Und Entschuldigung. Bitte machen Sie weiter so! Wir versuchen Ihrem Beispiel zu folgen.
Tag 26 – Sammelaktion des Abendblatts
Ich bin sprachlos: Ich sitze in meinem Lieblingscafé und lese das Abendblatt (mein Hobby) und kriege buchstäblich feuchte Augen. Da ruft meine Kaffee-Lektüre zu einer kleinen Sammelaktion für die Flüchtlinge in Hamburg auf und so mir nichts, dir nichts erscheinen 10.000 Hamburger und spenden spontan mehrere Tonnen (!) Hilfsgüter – vom Hygieneartikel bis zum Fahrrad! Immer wieder überfällt mich die Rührung: Was leben wir doch in einer tollen Stadt! Alster und Elbe: o. k. Schumachers Backsteinkunst: ja gut. Hafenkranballett und Speicherstadt: geschenkt …
Mir drängt sich eher der Verdacht auf, dass wir aus einem anderen Grunde in der schönsten Stadt der Welt leben: wegen der Menschen! Schon zu Zeiten der Brandanschläge in Mölln in den 90er-Jahren hat die Lichterkette gegen Fremdenhass rund um die Alster mit 250.000 Menschen beeindruckt, weil wir das „Tor zur Welt“ ernst zu nehmen scheinen. Dabei sind wir nicht naiv, sondern diskutieren die Risiken der Zuwanderung ganz offen, was ja auch die überwältigende kluge und reflektierte Resonanz auf meine kleine Kolumne zeigt. Nein, wir Hamburger versuchen in bester hanseatischer Art Menschlichkeit mit alter kaufmännischer Weitsicht zu verbinden. Nüchtern in der Analyse und wo es sein muss, mit Herz. So viel Schwärmerei sei einem Lokalpatrioten gestattet.
Ich war gerade beruflich lange in Berlin, die andere tolle Stadt in Deutschland. Mag ich sehr, Berlin hat wirklich viel zu bieten. Aber nach der Sammelaktion muss ich John F. Kennedy energisch widersprechen: ICH bin ein Hamburger!