Blutbad nach dem Freitagsgebet in Tripolis: Augenzeugen berichten von Toten. Die Opposition in Bengasi erwartet einen Gegenangriff.
Tripolis/Bengasi. Libyen versinkt im Chaos. Staatschef Muammar al-Gaddafi lässt auf das eigene Volk schießen. Nach Augenzeugenberichten wird in einigen Stadtteilen von Tripolis auf Regimegegner geschossen. Nach dem Freitagsgebet strömten Demonstranten aus einer Moschee im Zentrum der Hauptstadt und versuchten, den Grünen Platz zu erreichen, wie ein Augenzeuge sagte. Milizionäre hätten zunächst Warnschüsse in die Luft abgefeuert, um sie daran zu hindern, sagte ein weiterer Augenzeuge. Auf Dächern seien Scharfschützen postiert gewesen. Viele Demonstranten hätten die Flucht ergriffen. „Die Lage ist in Teilen von Tripolis chaotisch“, sagte er.
Nach den wirren Reden von Revolutionsführer Gaddafi war im libyschen Fernsehen der warnende Kommentar eines Imams bei den Freitagsgebeten zu hören. Der muslimische Geistliche sagte, dass diejenigen, die nun ein Chaos anzettelten, ihre gerechte Strafe bekämen. Im Stadtbezirk Faschlum von Tripolis riefen Demonstranten Anti-Gaddafi-Slogans, wie Bewohner berichten. Im Bezirk Dschansur seien mindestens fünf Menschen getötet worden. Al-Dschasira meldete zwei Tote in Tripolis und viele Verletzte.
Die libysche Oppositionsbewegung rechnet in der von ihr besetzten östlichen Stadt Bengasi mit einem Gegenangriff der Truppen Gaddafi. „Wir erwarten jeden Moment eine Attacke gegen Bengasi“, sagte ein desertierter Oberst namens Said der Nachrichtenagentur AFP. In Bengasi wird auch ein sogenannter Marsch auf Tripolis vorbereitet, um den Machthaber zu vertreiben. Allerdings sind die abtrünnigen Militärs schlecht ausgerüstet. In Bengasi verfügt die Oppositionsbewegung nur über zwei Helikopter, zwei Flugzeuge sowie einige Waffen.
Gaddafis enger Berater und Cousin Kadhaf el-Dam sei von sämtlichen Funktionen zurückgetreten, um gegen „den Umgang mit der libyschen Krise“ zu protestieren, berichtete die ägyptische Nachrichtenagentur Mena. Gaddafi müsse das Blutbad beenden „und zur Vernunft zurückkommen, um die Einheit und Zukunft Libyens zu wahren“, hieß es in einer offiziellen Erklärung Dams, aus der Mena zitierte.
Nach Einschätzung der Vereinten Nationen droht zudem bald eine Hungersnot, da wegen der Gewalt notwendige Lebensmittellieferungen das Land nicht mehr erreichten. Die Lieferkette für Nahrungsmittel stehe angesichts der Kämpfe vor dem Kollaps, sagte eine Sprecherin des Uno-Welternährungsprogramms in Genf. Wichtige Lieferungen kämen derzeit nicht mehr in den Häfen des Landes an.
Gaddafis Sohn Saif al-Islam versprach am Freitag politische Veränderungen. Für die Forderungen der Protestierenden gebe es Lösungen, sagte er dem Nachrichtensender CNN-Türk, dessen Reporter die Einreise nach Tripolis erlaubt wurde. Seine Familie habe nur einen Plan. „Wir werden in Libyen leben und sterben“, sagte der Gaddafi-Sohn, der für seinen Vater an der Propagandafront kämpft. Größtes Problem seien die bewaffneten Milizen auf den Straßen vieler Städte. „Wir werden Libyen nicht dem Terrorismus überlassen“, sagte er.
Weite Teile Libyens sind offenbar nicht mehr unter der Kontrolle von Gaddafi. Auch der libysche Generalstaatsanwalt Abdul-Rahman Al-Abbar erklärt im Fernsehsender al-Arabija seinen Rücktritt. Er schließe sich der Opposition an. Soldaten und Polizisten in der ostlibyschen Stadt Addschabija erklären im Fernsehsender al-Dschasira, sie hätten sich den Aufständischen angeschlossen und seien aus den Kasernen ausgezogen.
Nach Angaben von Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) muss die EU sofort vier Sanktionen gegen die libysche Führung verhängen. Darunter seien etwa ein Waffenembargo und ein Reiseverbot für die libysche Führung, sagte Westerwelle in Berlin. Verboten werden soll auch die Lieferung von Gütern, die zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden können. Außerdem soll das Vermögen der Familie Gaddafi im Ausland eingefroren werden. „Die Zeit der Appelle ist vorbei. Jetzt wird gehandelt“, sagte Westerwelle.
Er sei überzeugt, dass die EU die vier Sanktionen umsetzen werde. „Die EU wird deshalb handeln. Wir wollen nicht warten in Europa, bis die ganze Welt handelt.“ Es gebe eine unmittelbare Verantwortung für die Nachbarschaft. „Die Weltgemeinschaft muss den Kurs des Diktators klar sanktionieren.“ Der Außenminister schloss nicht aus, dass im Uno-Sicherheitsrat am Freitag weitere Sanktionen beschlossen werden könnte. „Alles muss ins Auge gefasst werden, was wirkt“, sagte er auf die Frage, ob auch militärische Sanktionen wie etwa die Einrichtung einer Flugverbotszone beschlossen werden könnten. Es sei von großer Bedeutung, dass auch die Afrikanische Union und die Arabische Liga eine „glasklare Sprache“ gesprochen hätten. Die Liga habe Libyen bis auf weiteres von allen Sitzungen ausgeschlossen.
Ausdrücklich betonte Westerwelle nach einem Treffen mit seinem marokkanischen und zuvor dem italienischen Kollegen, dass auch Italien diese vier Sanktionen mittrage. Deutschland sei in der EU sicher voranmarschiert, weil die EU zu zögerlich gewesen sei. „Jetzt hat die EU aber den vollen Ernst der Lage in vollem Umfang verinnerlicht hat.“ Auch der marokkanische Außenminister Taieb Fassi Fihri sagte in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Westerwelle, dass die Gewalt in Libyen durch Aktionen gestoppt werden müsse. Es gebe kommenden Mittwoch eine neue Sitzung der Arabischen Liga.
Das Blutvergießen in Libyen ruft nun auch die Nato auf den Plan. Die Botschafter der 28 Nato-Länder kommen zu einem Krisentreffen zusammen. Im Vordergrund stehen dabei Evakuierungsmaßnahmen und humanitäre Hilfe. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte: „Das ist eine Krise in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.“ Auf die Frage, ob die westliche Allianz ein militärisches Eingreifen plan, sagte Rasmussen: „Ich möchte jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen. Eindeutige Priorität muss der Evakuierung von Menschen gegeben werden, und vielleicht auch humanitärer Hilfe.“