Prof. Gunnar Heinsohn spricht im Interview mit dem Hamburger Abendblatt über den demografischen Wandel und qualifizierte Einwanderer.
Ein paar unangenehme demografische Wahrheiten hat Bevölkerungsforscher Prof. Gunnar Heinsohn für die Deutschen parat: Die Schrumpfung der Bevölkerung ist nicht aufzuhalten, wir müssen sofort weltweit um qualifizierte Einwanderer kämpfen. Ein kleiner Trost: Rund 70 andere Nationen sind in ganz ähnlicher Lage, sagte er im Abendblatt-Gespräch in Hamburg.
Hamburger Abendblatt: Thilo Sarrazin hat provokativ eine Debatte über Schrumpfung und Vergreisung befeuert. Warum entsteht diese Debatte erst jetzt? Hat sie etwas mit der Verunsicherung nach der Bankenkrise zu tun?
Prof. Gunnar Heinsohn: Diese Diskussion begann 2004, als die Industrie- und Handelskammern herausfanden, dass von 100 Lehrlingen damals 20 nicht ausbildungsreif waren. Nach Studien der Regierung sind es 25 Prozent, nach der Shell-Studie 22 Prozent. Für Sarrazin als ehemaligen Finanzsenator ist klar, dass dieser Prozentsatz wahrscheinlich nie Steuern zahlen wird, sondern ein Leben lang Steuern kostet. Man hat dann den Schluss gezogen, dass die Kinder früher gefördert werden müssten.
HA: Worin unterscheidet sich Ihre Position von der Thilo Sarrazins?
Heinsohn: Ich bin viel pessimistischer als er. Er hat die Standardhoffnung: Wir holen die Kinder ab 2013 mit 18 Monaten in die Krippen, wofür wir 35.000 Euro pro Kind für zwei Krippenjahre zahlen, dann schicken wir sie zur Mathe-Olympiade, und da sind sie dann besser als die jungen Mathematiker aus China, Indien und Japan, weil es dort eben keine tolle deutsche Krippe gibt. Das können wir natürlich abwarten. Aber ich sage nur: Ich bete. Denn wissenschaftliche Gründe, dass es klappen kann, kenne ich nicht.
HA Ist Deutschlands Vergreisung unaufhaltbar?
Heinsohn: Das Durchschnittsalter in Deutschland lag 1973 bei 34 Jahren und ist auf heute 44 Jahre gestiegen. Ohne die überwiegend jungen Einwanderer läge es schon bei 46 Jahren. Statt der 1,1 Millionen Neugeborenen pro Jahr, die die abtretenden Alten ersetzen würden, werden bei uns nur 650.000 Babys jährlich geboren.
HA: Wie Sarrazin kritisieren Sie aber, dass die Falschen die Kinder kriegen: Dass die deutsche Sozialpolitik dieUnterschichten dazu animiert, Kinder auf Sozialhilfe zu bekommen. Was werfen Sie denn den arbeitslosen Hartz-IV-Müttern vor?
Heinsohn: Ich bin, glaube ich, der Einzige, der ihnen nichts vorwirft. Wenn wir in Deutschland viermal so viele Frauen haben, die auf Sozialhilfe Kinder bekommen, als die anderen OECD-Länder, kann das ja nicht an den Frauen liegen. Es muss andere Gründe haben. Und die bestehen darin, dass wir ein Angebot machen, wie es keine andere Nation macht. Der deutsche Staat sagt zu den Bürgern: Wenn ihr bildungsfern seid, niemals Geld verdienen und Steuern zahlen könnt, dann finanziere ich euch so viele Kinder, wie ihr wollt, zu 100 Prozent. Und ich zahle euch für ein drittes Kind noch mehr als für ein zweites. Das sind Anreize, die andere Nationen nicht geben. Und dieses Angebot zeigt Wirkung: Wir hatten von 1964 bis 2010 einen Anstieg der Kinder auf Sozialhilfe um 1500 Prozent.
HA: Hat Deutschland also Ihrer Meinung nach eine falsche Sozialpolitik, die zu viele Hängematten finanziert?
Heinsohn: Nein, es kommt darauf an, was man will. Wenn ich sage „Die Nation soll in der Spitzengruppe der Industrienationen bleiben“, dann ist diese Sozialpolitik vielleicht eine Belastung. Wenn ich aber sage: „Nein, dieses Land soll vor allem sozial sein, und es ist mir egal, ob es auf Platz drei oder Platz 23 des internationalen Rankings beim Pro-Kopf-Einkommen liegt oder noch weiter abrutscht“, dann ist das genau die richtige Sozialpolitik. 160 Nationen haben überhaupt keine Sozialhilfe. Die Amerikaner zahlen seit 1995 jedem Bürger maximal eine Summe, die fünf Jahren Sozialhilfe entspricht. Die Niederländer zahlen auch lebenslang wie wir, aber sie begrenzen die Sozialhilfe: Für ein zusätzliches Baby bekommt die Familie keinen Euro mehr. Es gibt noch andere Länder, die lebenslang viel Sozialhilfe zahlen, aber auf Platz eins steht Deutschland.
HA: Geht es Ihnen darum, dass Deutschlands wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhalten bleibt?
Heinsohn: Ich zitiere mal zustimmend die Ministerin von der Leyen, die in der FAZ sagte: Wir haben heute die Situation, dass 25 Prozent der 15jährigen nicht ausbildungsreif sind. Wenn das so bleibt, heißt das „Staatsbankrott“, sagte sie. Wenn wir 25 Prozent nicht ausbildungsreife junge Leute in jedem Jahrgang haben, müssen die anderen 75 ja diese 25 Prozent mitfinanzieren, zusätzlich zu den Rentnern und den eigenen Kindern. Um diese Relation mache ich mir Sorgen.
HA: Den Fachkräftemangel haben wir jetzt schon. Was muss jetzt getan werden?
Heinsohn: Das Statistische Bundesamt hat mehrere Szenarien errechnet. Die optimistische Variante besagt: Wenn wir ab sofort 100.000 Fachkräfte pro Jahr bekommen und gleichzeitig die Abwanderung von jährlich 150.000 eigenen Talenten stoppen, dann geht die Bevölkerung von 80 Millionen in den nächsten Jahrzehnten nur auf 65 Millionen. Das ist aber aus Bordmitteln nicht zu leisten. Denn statt 100.000 brauchen wir sogar jährlich 350.000 Zuwanderer.
HA: Die momentane Einwanderungsdebatte geht aber in eine völlig andere Richtung: Man solle zuerst mal die deutschen Arbeitslosen unterbringen. Ist das nicht eine krasse Verkennung der Lage?
Heinsohn: Wir haben ab 1.1.2011 einen offenen Arbeitsmarkt für 500 Millionen Menschen in der EU. Horst Seehofer hat nun gesagt, was wir dann an Talenten kriegen können, reicht vielleicht. Er kann damit recht haben, weil der Ländergürtel in Osteuropa von Estland bis Griechenland demografisch völlig unrettbar ist. Diese Länder haben kaum Geburten, die Elite flieht. Und da denken manche: Diese Elite greifen wir ab. Andere sagen: Wir holen uns die Talente lieber in China und Indien.
HA: Wenn diese Talente denn woanders keine besseren Bedingungen finden...
Heinsohn: Man glaubt in Deutschland: In der Krise haben wir Arbeitslose, da können wir nicht fremde Arbeitskräfte ins Land holen. Das ist aber falsch. Denn Arbeit wird immer von den Besten in einer Nation geschaffen. Die machen Firmen auf, die gehen ins Risiko. Wenn es im Land zu wenig Babys gibt, muss man auch in der Krise eisern fortfahren, Spitzenkräfte zu holen, woher auch immer sie kommen.
HA: Aber selbst hochbegehrten Fachkräften stellt Deutschland unglaublich hohe Einwanderungshürden in den Weg.
Heinsohn: Das können wir uns nicht leisten. Wir müssten die Frage beantworten, warum Dortmund besser als Brisbane oder Houston ist. Wir konkurrieren mit anderen Anwerberländern in punkto Besteuerung, Sprache, Ausstattung des Arbeits- oder Forschungsplatzes. Wenn wir diese Faktoren bei uns nicht verbessern, um Talente zu gewinnen, haben wir verloren. Denn es gibt 70 bis 80 Nationen in derselben demografischen Schrumpfung wie wir.
HA: Worin sehen Sie den Grund, dass junge Frauen in diesen Ländern viel weniger und erst viel später Kinder bekommen? Liegt es nur an Verhütungsmitteln?
Heinsohn: Es liegt daran, dass junge Chinesinnen, Polinnen, Britinnen, Deutsche heute ihr Leben lang in der Konkurrenz stehen, sie verlieren die Jahre zwischen 15 und 35 an das Karrieremachen und haben kaum Spielraum für ein Baby. Allein die angelsächsische Welt braucht daher jedes Jahr 1,8 Millionen Asse von außen, um ihre Vergreisung zu verlangsamen. Das entspricht der Geburtenzahl von fünf Ländern wie Polen, Ukraine, Deutschland, der Schweiz und Österreich.