SPD und Grüne nehmen Angela Merkel ins Visier. Die Bundeskanzlerin habe “Angst vor dem rechten Rand der Wählerschaft“, so der Vorwurf.
Berlin. Im Streit über die I ntegrationspolitik rückt zunehmend Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ins Visier der Opposition. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel warf Merkel gestern vor, die Bürger "für dumm zu verkaufen". Grund sei Merkels "Angst vor dem rechten Flügel ihrer Partei und vor dem rechten Rand der deutschen Wählerschaft". Statt den "dumpfen Sprüchen" des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer unmissverständlich zu begegnen, versuche die Kanzlerin, "die Öffentlichkeit über die tatsächliche Situation am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ebenso zu täuschen wie über den drohenden Fachkräftemangel", so Gabriel in einem Gastbeitrag für den "Tagesspiegel".
Wer Langzeitarbeitslosen die Chance zur Qualifizierung nehme und gleichzeitig sage, sie könnten die fehlenden Fachkräfte ersetzen, "verhöhnt die Arbeitslosen ebenso wie die händeringend nach Fachkräften suchenden Handwerksmeister, Dienstleister und Unternehmer". Wer jede Zuwanderungspolitik diskreditiere, so der SPD-Chef weiter, schaffe den Boden für neue Ausländerfeindlichkeit.
Horst Seehofer hatte zuvor gesagt, Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern täten sich mit der gesellschaftlichen Integration in Deutschland "insgesamt schwerer", und daraus ziehe er den Schluss, "dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen". CDU-Chefin Merkel war dem Vorsitzenden der Schwesterpartei daraufhin mit der Bemerkung beigesprungen, Fachkräfte müssten vorrangig "aus der Vielzahl von arbeitsfähigen, aber leider langzeitarbeitslosen Menschen in Deutschland" rekrutiert werden. Merkel wörtlich: "Eine Lage, wie wir sie zum Beispiel Anfang der 60er-Jahre hatten, als wir einen Arbeitskräftemangel hatten, wo auch sehr viele türkische Gastarbeiter gekommen sind, wird sich nicht wiederholen."
Die Grünen warfen den Unionsparteien gestern vor, am rechten Rand zu "zündeln". Die schrillen Töne, die der bayerische Ministerpräsident "aus durchsichtigen Motiven" angeschlagen habe, seien "brandgefährlich" für die anhaltende Integrationsdebatte, sagte die Münchner Grünen-Fraktionsvorsitzende Margarete Bause. Und Renate Künast, die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, erklärte, Merkels Verteidigungslinie mache sie sprachlos. Der Bundeskanzlerin gehe es offenbar nicht um die Gestaltung der Zukunft, sondern darum, dem rechten Rand Genüge zu tun. "Wenn auch", wie Renate Künast einräumte, "mit weniger scharfen Worten als Seehofer." Aber: "Sie geht auf den Luftraum über den Stammtischen los."
+++ Punktesystem soll die Zuwanderung steuern +++
Die Unionsspitze war unterdessen sichtlich bemüht, den Dampf aus der Diskussion zu nehmen. CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich erklärte, Horst Seehofer sei "bewusst falsch interpretiert" worden. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe bezeichnete Sigmar Gabriels Äußerungen als "Ausdruck purer Hilf- und Ideenlosigkeit". Die SPD führe in der Integrationspolitik "seit Wochen - eigentlich Jahren" einen Eiertanz auf. Dabei schwanke sie "zwischen Multikulti-Träumen und Pseudo-Hardliner-Sprüchen des Herrn Gabriel". Gröhe forderte die Sozialdemokraten auf, "endlich klare Konzepte statt inhaltsleerer Sprüche" zu liefern.
Spitzenpolitiker der Koalition haben sich für Deutsch als Pflichtsprache auf Schulhöfen ausgesprochen. Für FDP-Generalsekretär Christian Lindner hilft die deutsche Sprache auf den Pausenhöfen der Eingliederung von Migranten. Lindner sagte der "Bild"-Zeitung, an manchen Schulen seien "Deutsche inzwischen die Minderheit. Es hilft der Integration, wenn dort Deutsch nicht nur im Unterricht gesprochen wird, sondern auch auf dem Pausenhof." Er verwies auf erste Schulen, an denen es entsprechende Vereinbarungen zwischen Lehrern, Eltern und Schülern gebe. "Das ist ein gutes Beispiel für andere", sagte der FDP-Generalsekretär.
Die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer (CDU) schloss sich der Forderung an. "Vor einem Jahr hat diese Diskussion noch einen Aufschrei hervorgerufen. Heute hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Deutsch muss verpflichtende Schulsprache sein", sagte Böhmer der "Welt": Regierungssprecher Steffen Seibert sagte zu dem Thema, das funktioniere "an manchen Schulen schon in hervorragender Weise." Er hoffe, dass sich mehr Schüler, Lehrer und Eltern darauf verständigten.
Gleichzeitig wurde die Zuzugsdebatte aus Sachsen erneut befeuert. "Wir brauchen Zuwanderung und eine moderne Einwanderungspolitik - das gilt für Deutschland, und das gilt speziell auch für Sachsen", sagte der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) der "Financial Times Deutschland".
Die demografischen Probleme seien in seinem Bundesland größer als in Westdeutschland. "In zehn Jahren werden in Sachsen 1,3 Millionen Menschen weniger leben als noch 1990", so Ulbig. Auch die Liberalen drängen darauf, den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften nach Deutschland zu erleichtern.