In NRW will die SPD um Landeschefin Kraft mit den Grünen als Minderheit regieren. Die Linke bietet sich als Mehrheitsbeschafferin an.
Hamburg. Die Kehrtwende kam abrupt. Das wusste auch Hannelore Kraft. Als die SPD-Landeschefin im Düsseldorfer Landtag all ihre Gründe aufzählte, warum sie auf einmal doch eine Minderheitsregierung bilden wolle, ging sie auch auf die Suche nach Schuldigen für ihre überraschende Entscheidung. Schließlich hatte erst am Montag der SPD-Landesparteirat per Beschluss festgelegt, dass eine SPD-geführte Minderheitsregierung "derzeit nicht angestrebt" werde. Ein Aussage, die ganze drei Tage gültig war.
Ausgerechnet ein Zeitungsinterview soll Krafts Entschluss gestern spontan forciert haben, mit den Grünen zusammen aus der Minderheit heraus mit wechselnden Mehrheiten regieren zu wollen. FDP-Landesvorsitzender Andreas Pinkwart hatte am Vortag der "WAZ" gesagt, dass der Koalitionsvertrag mit der CDU "abgearbeitet" sei und dass die FDP sich mit Auslaufen des schwarz-gelben Koalitionsvertrags nicht mehr an die CDU gebunden fühle. Die Liberalen würden nun im Landtag auf eigene Rechnung für "Mehrheitsentscheidungen im Interesse des Landes" werben wollen, so Pinkwarts Ankündigung.
Die SPD-Chefin wollte in den Aussagen des FDP-Politikers die offizielle Auflösung der Koalition zwischen CDU und FDP erkannt haben. Es gebe nun keine geschäftsführende Landesregierung mehr, befand Kraft, sondern nur noch einen geschäftsführenden Ministerpräsidenten und geschäftsführende Minister, die "einzeln unterwegs" seien.
Dann hatte auch der amtierende Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) Dinge angesprochen, die Kraft alarmiert haben sollen. Er könne nicht zurücktreten, weil die Landesverfassung dies nicht erlaube, hatte der Regierungschef im ZDF-Morgenmagazin gesagt. Derart instabile Verhältnisse, so Kraft, "kann man so nicht stehen lassen". Nachdem Pinkwart die abgewählte schwarz-gelbe Landesregierung aufgelöst habe, stünden nun 114 Stimmen der 181 Abgeordnetenstimmen im Düsseldorfer Landtag gegen den "Ministerpräsidenten auf Abruf".
Ein Zustand, den Kraft nicht mehr hinnehmen wollte. Also entschied sie, derartige Mehrheitsentscheidungen, von denen Pinkwart gesprochen hatte, selbst herbeiführen. Doch dafür werden die Stimmen von SPD und Grünen nicht reichen. Auf die FDP werden SPD und Grüne kaum zählen können, vielmehr wird es allein auf die Linkspartei ankommen. Und die zeigt bereits Kooperationsbereitschaft für zukünftige Abstimmungen im Düsseldorfer Landtag.
Linken-Parteichefin Gesine Lötzsch kündigte im Abendblatt an, Rot-Grün unterstützen zu wollen: "Zum Beispiel in der Bildungspolitik gibt es große Schnittmengen. Wir wollen längeres gemeinsames Lernen in den Schulen, und wir wollen die Abschaffung der Studiengebühren." SPD, Grüne und Linke hätten in vielen sozialen und ökologischen Fragen ähnliche Auffassungen, "die wir auch gemeinsam umsetzen können", so Lötzsch. Die Parteichefin erneuerte die Einladung der Linkspartei an eine rot-rot-grüne Koalition: "Unser Angebot steht."
Eine ähnliche Situation gab es vor neun Jahren schon einmal im Land Berlin: Im Juni 2001 ließ sich der SPD-Politiker Klaus Wowereit auch mit den Stimmen der damaligen PDS vom Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister wählen, um anschließend eine rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden. Wenige Monate später kam es zu Neuwahlen. Seitdem regiert Wowereit mit einem rot-roten Bündnis. Für Lötzsch ist diese Berliner Erfahrung ein Vorbild für Nordrhein-Westfalen: "Die Regierungserfahrungen in Berlin zeigen, dass die Linke ein zuverlässiger Partner ist, wenn es um mehr soziale Gerechtigkeit geht. Allerdings haben wir in Berlin einen ordentlichen Koalitionsvertrag."
Die Linksparteivorsitzende will einer Minderheitsregierung nicht endlos zusehen: "Die Minderheitenregierung könnte ich als vertrauensbildende Maßnahme akzeptieren, um dann eine ordentliche Regierung zu bilden."
Die Lage in Nordrhein-Westfalen erinnert zugleich an die Situation in Hessen nach der Wahl 2008. Damals wollte sich die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti mit Unterstützung von Grünen und Linkspartei zu Regierungschefin wählen lassen. Kurz vor der Wahl verweigerten ihr aber vier Abgeordnete aus ihrer eigenen Partei die Unterstützung. Die rot-grüne Regierung unter Tolerierung der Linkspartei scheiterte. Bei der folgenden Neuwahl des Landtags erreichten CDU und FDP wieder eine eigene Mehrheit, und Ypsilanti trat von ihren Ämtern zurück.