Angesichts der Zusatzbeiträge für Kassenpatienten überziehen sich Bundesregierung und Opposition mit Schuldvorwürfen.
Berlin. Auch zwischen Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) und der Union brach Streit über die höheren Beiträge und die Reformpläne aus. Im Bundestag kündigte die Union ihre Strategie bei der umstrittenen Reform an. Demnach soll die Obergrenze bei den Zusatzbeiträgen aufgehoben werden – dafür soll es einen Steuerausgleich geben.
„In der jetzigen Form sind die Zusatzbeiträge unsozial“, sagte Rösler der „Bild“-Zeitung (Freitag). „Jede Krankenkasse steht deshalb in der Pflicht, alles zu tun, um Zusatzbeiträge für ihre Versicherten zu vermeiden.“ Rösler kündigte Reformen an. „Wir haben das Ziel, eben diese Zusatzbeiträge endlich sozial gerecht zu gestalten“, sagte er im ZDF. Weil der geplante Umstieg zur Finanzierung mit Pauschalprämien schrittweise erfolge, brauche man dafür auch nicht so hohe Steuermittel wie von Kritikern behauptet.
Unions-Gesundheitsexperte Jens Spahn (CDU) widersprach Rösler. „Der Zusatzbeitrag ist nicht unsozial“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Samstag). Er schaffe Transparenz zur Wirtschaftlichkeit der Kassen. Oberhalb einer Pauschale von acht Euro müsse niemand mehr als ein Prozent des Einkommens zahlen.
Im Bundestag kündigte Spahn den Plan an, die von der SPD durchgesetzte Obergrenze der Zusatzbeiträge zu kippen. Die Koalition werde sicherstellen, dass das nötige Geld für die Kassen nicht gekappt werde, und einen Sozialausgleich einführen. FDP-Expertin Ulrike Flach kündigte gemeinsame Koalitionsvorschläge für Mitte des Sommers an: „Der Sozialausgleich wird so unbürokratisch wie möglich gefasst.“
Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) drohte aber mit heftigem Widerstand. Die FDP-Reformpläne seien „völliger Nonsens“, sagte er in Nürnberg. Ein milliardenschwerer Sozialausgleich sei „blanke Illusion“.
SPD, Grüne und Linke warfen der Koalition in hitziger Debatte vor, nichts gegen die Beitragserhöhungen zu tun und mit der Kopfpauschale die Gesellschaft entsolidarisieren zu wollen. „Jetzt gibt es weniger Netto“, wetterte Grünen-Fraktionsvize Fritz Kuhn. Er warf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen ihrer Kritik an den Kassen Heuchelei vor: „Das haben Sie beschlossen, und Sie können es ändern, wenn Sie es ändern wollen.“ Die SPD-Abgeordnete Carola Reimann sagte: „100 Tage Rösler heißt für Millionen von gesetzlich Versicherten fast 100 Euro mehr Beitrag.“ SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: „Die Vorschläge laufen nur darauf hinaus, dass mit einer Steuersubvention die Gutverdiener und die Arbeitgeber entlastet werden.“
Die Zusatzbeiträge hatte die schwarz-rote Koalition mit dem Gesundheitsfonds beschlossen. Dieses Jahr kommen sie, weil die Kassen insgesamt rund vier Milliarden Euro zu wenig aus dem Fonds erhalten.
DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach bemängelte: „Wer praktisch nichts unternimmt, aber über das Unsoziale an den Zusatzbeiträgen jammert, wie Herr Minister Rösler, macht sich mit seinen Krokodilstränen völlig unglaubwürdig.“ Der Paritätische Wohlfahrtsverband lehnte Pauschalen als unrealistisch ab.
Mittlerweile beantragten sieben Kassen Zusatzbeiträge, wie eine Sprecherin des Bundesversicherungsamts (BVA) mitteilte. Der DAK- Vorsitzende Herbert Rebscher verteidigte im Portal „bild.de“ die Zusatzbeiträge und sagte entsprechende Beschlüsse auch bei den anderen Kassen bis zum Jahresende voraus. Das BVA nahm die DAK und weitere Kassen gegen den Verdacht der Kartellabsprache in Schutz. „Eine Preisabsprache kann ich noch nicht erkennen“, sagte Vize- Präsidentin Sylvia Bohlen-Schöning der „Financial Times Deutschland“.
Nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ ist noch strittig, ob der in diesem Jahr um 3,9 Milliarden Euro erhöhte Bundeszuschuss an die Kassen noch gekürzt wird. Nach Expertenberechnungen seien nur
1,4 Milliarden Euro nötig für den Ausgleich krisenbedingter Ausfälle. Im Bundestag forderten Grüne, Linke und SPD die Regierung auf, angesichts des Defizits gegen hohe Medikamentenpreise vorzugehen. Rösler versprach im ZDF, genau das zu tun: „Den Mut habe ich.“
Der Minister forderte eine drastische Verminderung von Kontrollen und Prüfungen in den 2100 deutschen Kliniken. Krankenkassen und SPD warnten davor, fehlerhafte Abrechnungen und Qualitätsmängel könnten unentdeckt bleiben. Die Kliniken lobten Rösler. 59 Prozent der Bürger sehen laut ZDF-„Politbarometer“ größere Probleme auf das Gesundheitswesen zukommen.