Scheeßel. Weniger Ärzte, mehr Patienten: Wie kann die Versorgung auf dem Land künftig besser laufen? Ein Hausarzt aus Niedersachsen macht es vor.
In der nahenden Erkältungssaison werden wieder viele Menschen bemerken, was chronisch kranke oder ältere Menschen das ganze Jahr über erleben: Ein Besuch beim Hausarzt ist zumeist mit langer Wartezeit verbunden. Gleichzeitig bleibt den Medizinern oft nur wenig Zeit für den einzelnen Patienten.
In Zukunft werden noch weniger Ärztinnen und Ärzte mehr kranke Menschen versorgen müssen. Wie können die Abläufe in einer allgemeinmedizinischen Praxis daher so organisiert werden, dass Zeit gespart wird, die Behandlungsqualität aber nicht leidet? Mit konsequenter Digitalisierung, meint ein Hausarzt aus Scheeßel in Niedersachsen.
Hausarzt aus Scheeßel entwickelt digitale Praxis: So funktioniert es
Jan Gerlach hat zusammen mit seiner Frau Tanja Gerlach und weiteren Unterstützern das Konzept der Avatarpraxis entwickelt. Ein Besuch in seiner Hausarztpraxis läuft anders ab, als es die meisten Patienten bisher gewohnt sind. Doch in Zukunft könnten die Terminbuchung mittels Künstlicher Intelligenz, die Video-Sprechstunde und das Rezept aus dem Automaten in immer mehr Praxen zum Standard werden.
Am Anfang steht die Termin-Anfrage. In der Avatarpraxis geht das rund um die Uhr per App, über die Website oder auch per Telefon. Alle Anrufe werden garantiert bei ersten Versuch angenommen – von einer KI, die sich als Karin vorstellt und erste Informationen zum Anliegen erfragt. Sie sammelt die Terminwünsche und ab 11 Uhr rufen die Angestellten der Praxis zurück. „Das spart auf beiden Seiten sehr viel Zeit“, sagt Tanja Gerlach.
Nach dem Self-Check-In geht es in die Video-Sprechstunde mit dem Arzt
Der vereinbarte Termin beginnt mit dem Self-Check-In: An einem Terminal im Eingangsbereich können die Patienten ihre Krankenkassenkarte selbst einlesen. Je nach Wartezeit können sie die Praxis dann noch einmal verlassen und sich per SMS benachrichtigen lassen, wenn der Arzt Zeit für sie hat. Wer weitere Fragen hat, kann die Anmeldung weiterhin bei den Mitarbeitern am Tresen erledigen.
Im Behandlungszimmer trifft der Patient auf Jan Gerlach oder eine Kollegin. Wenn es sinnvoll erscheint, ist aber auch ein Video-Gespräch möglich. Dann erscheint – wie an diesem Tag Anfang September – auf einem Bildschirm neben dem Schreibtisch das Gesicht von Dr. Ludwig Dettmann. Der Internist schaltet sich aus dem Homeoffice in Bremen ein, von dort aus bietet der Vater eines kleinen Kindes derzeit stundenweise die Video-Sprechstunde in der Scheeßeler Praxis an.
Video-Gespräch: Medizinische Fachkraft begleitet die Patienten
Das Wesentliche könne er auch auf diesem Weg machen, sagt Dettmann. „Anamnese und Gespräch sind problemlos möglich, ich habe nicht das Gefühl, dabei etwas Wichtiges zu verpassen.“ Natürlich gebe es Ausnahmen, bei Verdacht auf Blinddarmentzündung schickt er den Patienten zu einem Arzt vor Ort. „Aber gerade für chronisch kranke Menschen eignet sich das Video-Gespräch sehr gut.“
Die Patienten sind nicht allein im Behandlungszimmer, immer begleitet eine Medizinische Fachkraft den Termin. Auch ihre Beobachtungen und Einschätzungen sind wichtig für den Arzt am anderen Ende der Leitung, sagt der Arzt aus Bremen. „Die Mitarbeiter, die die Patienten ja sowieso meist häufiger sehen, liefern oft wertvolle Informationen.
Digitalisierung und Datenschutz: EKG und Blutdurckmessen von zu Hause aus
Die Praxis nutzt weitere digitale Hilfsmittel, die die Diagnostik und Behandlung von zusätzlichem Aufwand befreien sollen. So sind zum Beispiel die Geräte für ein Langzeit-EKG oder eine Blutdruckmessung zu Hause kleiner und einfacher zu handhaben als bisher übliche Modelle – der Patient muss allerdings auch selbst dafür zahlen. Die Daten werden direkt in eine Cloud übertragen, können vom Arzt abgerufen werden und per Videocall besprochen werden. Fragen des Datenschutzes sind bei der Praxis-Digitalisierung ständige Begleiter.
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Jan Gerlach hat sich davon nicht abschrecken lassen. Er ist überzeugt, dass es Modelle wie Avatarpraxis braucht, um das wichtigste Ziel der künftigen Gesunheitsversorgung zu erreichen: Zeit für die Aufgaben zu gewinnen, die zwingend der Hausarzt oder die Hausärztin übernehmen muss. So soll auch in Zukunft jeder Patient die passende Behandlung erhalten.
Mehr Zeit für Prävention: Systemische Therapeutin berät zu mentaler Gesundheit
In der allgemeinmedizinischen Praxis in Scheeßel gehört dazu auch das Angebot einer systemischen Beratung. Claudia Brünjes hat ihre Räume im oberen Stockwerk, die systemische Beraterin und Therapeutin berät bei Fragen zu Stress, mentaler Gesundheit und damit verbundenen körperlichen Beschwerden.
„Zu mir kommen Menschen, die zum Beispiel Familie, Kinder und Beruf nicht mehr unter einen Hut bekommen“, sagt sie. Diese Patienten leiden unter Erschöpfungszuständen, Angst oder Überlastung. „Es geht darum, erst einmal gesehen zu werden.“ Auch Claudia Brünjes bietet eine Video-Sprechstunde an. Das sei zwar für ihre Arbeit nicht immer die erste Wahl. „Aber es ist viel besser, als gar keine Hilfe zu bekommen.“
Digitale Hausarzt-Praxis in Scheeßel: Rezept per App oder am Automaten
Die Patienten der Hausarztpraxis, die regelmäßig Medikamente benötigen, ist die Rezeptausstellung ebenfalls vereinfacht worden. Anstatt jedes Mal am Tresen anzustehen, können sie ihr E-Rezept über die Praxis-App bestellen und in der Apotheke abholen.
Eine weitere Möglichkeit ist bei der Hausarztpraxis derzeit in der Probephase: In Zukunft sollen Rezepte an einem Automaten ausgegeben werden, der auch außerhalb der Praxisöffnungszeiten zugänglich ist.