Hamburg. Sie behandeln auch noch im Rentenalter, junge Kollegen fehlen. Der große Report von Andreas Laible (Fotos) und Christoph Rybarczyk (Text).
Die fortschreitende Überalterung der Hamburger Hausärztinnen und Hausärzte kann man auch positiv sehen: Kaum eine Berufsgruppe kann sich so empathisch, so einfühlsam und mit eigenen Erfahrungen um ihre „Kundschaft“ kümmern. Die Praxismediziner sind nicht verschont von Herzinfarkten, Schlaganfällen, Krebserkrankungen, Bandscheibenvorfällen und Arthrosen. Je älter die Helfer werden, desto eher gilt der Satz: Auch ein Doktor braucht mal Hilfe.
Klaus Schäfer ist jetzt 79. Er sitzt in seiner Praxis in Langenhorn und lässt die Jahre als Vorsitzender des Hausärzteverbandes, als Vizepräsident der Ärztekammer, als engagierter, immer erreichbarer Praxisarzt schlaglichtartig an sich vorbeiziehen. „Im Oktober werde ich 80, und wenn alles klappt, werde ich mich zum Ende des Jahres mit einer anderen Praxis zusammenschließen und mich dort anstellen lassen. Dann werde ich 40 Jahre in der Praxis gearbeitet haben, davor zehn Jahre im Krankenhaus.“
Hausärzte in Hamburg: Arbeiten jenseits des Rentenalters
Warum er im Rentenalter noch arbeitet? Weil er es kann. Die Patientinnen und Patienten brauchen ihn und die anderen Allgemeinmediziner. Wer fährt sonst zu Hausbesuchen? Wer in die Altersheime? „Das wird nicht nur schlecht bezahlt“, sagt Schäfer. „Wir sind auch noch mit Regressforderungen der Krankenkassen konfrontiert, wenn wir das Heilmittel-Budget überschreiten, wenn wir also Demenzpatienten oder Menschen nach Schlaganfällen Physiotherapie verordnen, damit sie nicht einsteifen. Dabei ist es so wichtig, dass sie beweglich bleiben.“
Die Gesellschaft altert und fragt mehr medizinische Leistungen nach. Dr. Christine Schroth der Zweite (66) betreibt ihre Praxis mit ihrer Kollegin Annette Alberts (61) schräg gegenüber der U-Bahn Hudtwalckerstraße in einem Altbau. Eine ihrer Patientinnen ist in den 1940er-Jahren in den Räumen geboren worden. Wo sollte sie hin, wenn diese Hausärztinnen in Rente gingen? Schroth und Alberts nehmen sich viel Zeit für Patientengespräche. Erstmalig mussten sie die Praxis kurzzeitig schließen. Es gab Tränen.
Hausbesuche, Heimbesuche, Hospize – Alltag für Hamburger Hausärzte
Schroth sagt: Sie sieht „banale Infekte“, schwere chronische Leiden, Notfälle und sogenannte „somatoforme Beschwerden“. Heißt: „Hierbei führen seelische Belastungen zu Körperbeschwerden. Es braucht Wissen, Erfahrung, Zeit und Einfühlung, um die entscheidende Differenzierung vorzunehmen. Deshalb ist die hausärztliche Versorgung die Königsdisziplin, wie ich gern sage.“
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Alberts spricht von persönlichen Beziehungen zu Patienten. „Zum Teil lebenslang.“ Und sie stellt eher fest, als dass sie jammert: „Zuhörende und sprechende Medizin spart Geld, Ressourcen und vermindert Leid, wird aber schlecht honoriert. Das sind ungünstige KV-Rahmenbedingungen, die nach wie vor falsche Anreize in Richtung Apparatemedizin schaffen. Die ist auch wichtig, aber hilft allein nur bedingt.“
Christine Schroth hat im Hafenkrankenhaus gearbeitet, in einer Notaufnahme, hat ein Pflegeheim betreut, Schwerstbehinderte in ihren Wohnungen. Der Praxisjob ist nur ein Teil der Aufgabe. So arbeiten viele. Einen Steinwurf entfernt am Winterhuder Marktplatz praktiziert Dr. Elisabeth Lübbers-Klare (66), auch sie ist Fachärztin für Inneres. Um zwei Hospize kümmert sie sich und um eine Wachkoma-Station. Sie sagt: Das trage zu ihrer persönlichen Zufriedenheit bei. Denn vieles andere nervt. „In der Praxis habe ich Spaß an der Arbeit. Aber bei tausend Formularen und zigtausend Richtlinien frage ich mich: Muss das sein?“
„Bei Patienten ist häufig das Körpergefühl verloren gegangen“
Ihre Zeit für Patienten leide darunter, dass es immer wieder Rückfragen der Krankenkassen gebe, „die so viele Begründungen für Behandlungen erfordern“. Die Bürokratie schreckt junge Ärzte ab und die Medizinischen Fachangestellten ebenso. Nirgendwo wird mit den MFAs, den ausgebildeten Helferinnen, so achtsam umgegangen wie in den Hausarztpraxen. Denn sie litten zunächst unter dem unbändigen Impf-Ansturm während der Corona-Pandemie, dann an der großen Zunahme an Alltagserkrankungen danach. Die Terminsituation ist fast überall angespannt. Der gemeine Kassenpatient ist oft gemeiner als Patient, lateinisch für „geduldig“.
Die enge Treppe zu Dr. Rainer Holzhüter (77) an der Harburger Rathausstraße ist bisweilen voll mit Hustenden. „Bei uns kriegen unsere Patienten immer einen Termin, während man bei Fachärzten schon mal drei Monate Vorlauf hat“, sagt Holzhüter in seinem Kämmerlein. Und der Experte ist oft nicht mal der Richtige: „Bei Patienten ist häufig das Körpergefühl verloren gegangen. Da rennt einer zum Pulmologen – dabei hat er Magenbeschwerden.“ Holzhüter arbeitet auch deshalb noch, weil er seine Tochter in der Praxis unterstützen möchte. „Unsere Patienten kommen auch mal aus allen Ecken der Welt, da muss alles auf Englisch besprochen werden – oder mit Händen und Füßen.“
Psychosomatische Patienten brauchen mehr Zeit
Harburg ist halt Harburg. Allerdings gibt es ein „zweites“ Harburg, das in Eißendorf mit seinen Einfamilienhäusern und den alten Bäumen. Hier sitzt Dr. Horst Boulanger (72). „Einige geben frustriert auf und schließen einfach die Praxis. Mir macht die Arbeit Spaß und hilft dabei, länger fit zu bleiben.“ Rentner? Ja, davon hat er viele unter seinen Patienten. Boulanger macht mit seinem Kollegen richtige Familienmedizin. UKE-Studenten können hier alles lernen, was sie für die Praxis brauchen. Boulanger sagt: „Ich habe manchmal den Eindruck, Krankenhausärzte haben nicht den richtigen Mumm, in eine Praxis zu gehen.“
Das „Vertrauen“ zwischen Hausärzten und Patienten wirkt wie eine Stanze aus dem Schönwetter-Klischee über sanfte Medizin. Doch wenn es da ist, trägt es zum Heilungserfolg erheblich bei. Das sagt Dr. Eva-Maria Bernbeck (66) aus Alsterdorf. Sie kennt sich aus mit psychosomatischen Patienten, mit Essstörungen, die vor allem aber nicht nur junge Frauen betreffen. „Man macht eine bessere Medizin, wenn man mehr Zeit hat. Wir begleiten Patienten zum Teil seit Jahrzehnten. Das ist nicht nur Husten, Schnupfen, Heiserkeit, sondern der ganzheitliche Blick ist wichtig, um zu verstehen, was stören und was zur Heilung beitragen kann.“
Videosprechstunden in Hamburg – kein Allheilmittel gegen Ärztemangel
Bernbeck nutzt Videosprechstunden, wenn es um das Einordnen von Laborergebnissen geht, um Rezepte oder psychologische Probleme, die keine körperliche Untersuchung benötigen. Andere Hausärzte sehen die Telemedizin da skeptisch, wo sie nach traditionellem Schema hinlangen oder abhören können.
Wie erfüllend das ein Berufsleben lang sein kann, ahnen junge Medizinstudenten nicht. Ihr Trend geht zum Spezialistentum. Viele Apparate, noch mehr Technologie. Keine sieben Prozent von rund 1130 Hausärzten in Hamburg sind zwischen 30 und 39 Jahren alt. Deutlich mehr als ein Drittel ist über 60 – und es gibt mehr über 70-Jährige als in der jüngsten Alterskohorte bis 39. Viele scheuen die Selbstständigkeit – aus privaten Gründen oder kalkulierter Risikoabneigung. Deshalb boomen die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die oft von finanzkräftigen Gruppen gelenkt werden.
Hausarzt Schäfer meint: „Die Gesundheitspolitik wird der nachfolgenden Generation von Hausärzten große Probleme bereiten. Große Medizinische Versorgungszentren sind in der Hand von Investoren. Da finanzieren wir mit unseren Krankenkassenbeiträgen amerikanische Rentenfonds.“ Er spricht von „erlösoptimierten Behandlungen“.
Hamburger Hausärzte verdienen zum Teil weniger als Oberärzte am Karriereanfang
In den Augen der vom Abendblatt befragten Ärztinnen und Ärzte sehen diese Arztfabriken schlecht aus. Dort seien Patienten Nummern, Vertrauen könne nicht richtig aufgebaut werden. Doch was ist die Alternative? Nicht mal im Alter, sagt Hausärztin Schroth, verdiene sie als Selbstständige so viel wie heute ein Oberarzt im Krankenhaus zu Karrierebeginn. „Wir werden nie reich, damit haben wir uns abgefunden.“ Doch Schroth spricht von einem Stundenlohn, den sie besser nicht ausrechnet, denn „das wäre demotivierend“.
Bei Asklepios sind das zum Beispiel rund 9000 Euro Tarifgehalt im Monat. Kollegin Lübbers-Klare sagt: „Wenn ich meine Abrechnungen sehe und nur 67 Prozent der Behandlungen bezahlt bekomme, meine Kolleginnen in anderen Bundesländern aber 100 Prozent, dann ist das ungerecht.“ Hamburg gilt als überversorgt mit Ärzten. Sie alle wetteifern um ein begrenztes Honorar-Budget. Vor allem zwischen den Fachärzten und den Allgemeinmedizinern knirscht es da und dort.
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Mehr Notdienste, „damit man 24/7 seinen Fußpilz behandeln kann“?
Die Hausärzte sollen demnächst alle Leistungen tatsächlich bezahlt bekommen. Aber die Politik von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat bereits neue Folterinstrumente im Koffer. Die Notdienste sollen neu organisiert werden, was den Niedergelassenen noch weniger Zeit für ihre Praxispatienten gäbe. Schroth sagt lakonisch: „Wenn jetzt noch mehr Geld in die Notfallversorgung anstatt in die Regelversorgung fließen soll, damit man 24/7 seinen Fußpilz behandeln kann, dann kann es das nicht sein.“
Die Vorsitzende des Hausärzteverbandes, Dr. Jana Husemann, spricht von einem „Traumberuf“. Doch es müsse sich einiges ändern, damit die Versorgung in Hamburg so aufrechterhalten werden könne. „Die eindrucksvollen Bilder und Geschichten der Ärztinnen und Ärzte bekräftigen die Notwendigkeit einer wohnortnahen hausärztlichen Versorgung – die Hamburgerinnen und Hamburger haben dies spätestens in Pandemiezeiten zu spüren bekommen.“ Husemann will auch die Patienten „ins Boot holen“ und sagt: „Jede und jeder kann das über die Teilnahme an den Hausarztverträgen selbst steuern – viele Menschen wünschen sich das auch!“
Im fortschreitenden Rentenalter suchen manche Hamburger Hausärzte bereits händeringend Nachfolger. Andere arbeiten sie bereits ein. Vor allem Hausärztinnen haben durchgerechnet, dass sie weit über jede gewöhnliche Altersgrenze hinweg tätig sein müssen. Wenn sie über Jahre Kinder erzogen oder nur in Teilzeit gearbeitet hat und es zu einer Trennung kommt, steht eine Partnerin bei der Rente aus dem Ärzteversorgungswerk meist nicht so gut da wie ein Partner.
Ärzte bezahlen wie Handwerker? Das wäre ein Fortschritt!
Für Christine Schroth und Annette Alberts ist Alter ohnehin nur eine Art Hausnummer. Man guckt hin und geht weiter. Elisabeth Lübbers-Klare sagt: „Mit 80 möchte ich nicht mehr arbeiten, und ich wünsche mir einen fließenden Übergang wie bei meiner Vorgängerin. Dafür brauche ich eine Nachfolgerin, die ich in die Praxisabläufe und die Abrechnungen einarbeiten kann, während ich für die Patienten noch da bin.“ Eva-Maria Bernbeck blickt skeptisch auf die Situation, weil eine potenzielle Nachfolgerin dem Trend folgend sich vermutlich eher anstellen lassen möchte.
Horst Boulanger sieht seine Nachfolge eher optimistisch. „Die Budgetierung für Hausärzte wird aufgehoben, sodass wir bald wie Handwerker auch mehr verdienen, wenn wir mehr arbeiten. Ich setze auf ausländische Kollegen, die sind voll motiviert. Vielleicht sitzt auf meinem Stuhl eines Tages jemand mit arabischem Namen – den die Patienten voll akzeptieren.“
Mit 77 und Kindern, die selbst gestandene Mediziner sind, sagt Rainer Holzhüter: „Vielleicht arbeite ich noch, bis ich aus der Praxis getragen werde. Allerdings ärgert mich etwas, dass ich als Quasi-Pensionär noch Steuern zahlen muss. Der Staat sollte über jeden froh sein, der noch im hohen Alter arbeitet.“
Von Andreas Laible (Fotos) und Christoph Rybarczyk (Text)