Zelte, Container, Schicksale: Das Hamburger Abendblatt besuchte zehn Unterkünfte für Flüchtlinge. Eine Multimedia-Reportage.
Eman Ahmad, 18, steht im Gedränge vor einem Kleinlaster und wartet auf seine Erlösung. Drei Männer auf der Ladefläche rufen Namen durch den Nieselregen der Harburger Poststraße, einzelnd schieben sich müde Gestalten an Eman vorbei, sein Magen ist flau, er hat wenig gegessen, einen Apfel, zwei Scheiben Graubrot. Aber seine Augen glimmen. „Ich werde Doktor, Dentist“, sagt der junge Afghane. Er brauche nur ein richtiges Zimmer, Bücher und Zeit. „Ich bin jetzt ganz nah dran“, glaubt Eman Ahmad.
1. Harburger Poststraße
Wenn sein Name fällt, darf Eman seinen Rucksack in den Laster werfen und auf die Sitze eines alten Reisebusses klettern, zu den anderen Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Albanien, Serbien, dem Irak, Eritrea. Fast alle Flüchtlinge in Hamburg werden in der Poststraße erfasst. Mehrmals am Tag müht sich der Bus von der Registrierungsstelle die Kehre hinauf und bringt die Neuen in ein verändertes Hamburg, im August waren es rund 6000 Menschen, ein Rekord, mal wieder.
Das genaue Ziel kennt nur der Busfahrer. Nach dem Aussteigen könnte Eman die Gesichter von Anwohnern in Niendorf sehen und frisch gemähtes Gras riechen. Oder als Pünktchen im endlosen Weiß und Grau der Erstaufnahme Schnackenburgallee mit 2800 Bewohnern stehen und begreifen, dass in Hamburg eine monatelange Odyssee endet, aber auch eine neue beginnt.
„Hamburg will für alle ein toller Gastgeber sein, aber das geht nicht mehr“, sagt ein hochrangiger Senatsvertreter: „Wir blasen einen großen Ballon immer weiter auf und hoffen, dass der Knall ausbleibt.“ Ohne die Ehrenamtlichen wäre das System bereits kollabiert, heißt es von Mitarbeitern der städtischen Gesellschaft „Fördern &Wohnen“, die zwölf von 14 Erstaufnahmen in Hamburg betreibt. In Unterkünften grassieren Krankheiten wie die Krätze, die Polizei rückt zu einigen Erstaufnahmen mehrmals pro Tag aus, Flüchtlinge protestieren für Geld und einen Internetzugang. Der Herbst naht, dann wird es neue Probleme geben, die sich bereits andeuten.
Wer in diesen Tagen durch Hamburg fährt und die Flüchtlingslager besucht, erlebt eine Stadt im „Aufnahmezustand“, die sich müht, alles versucht, Schutz und Freude für 10.000 oft traumatisierte Menschen in den Erstaufnahmen bietet. Aber es gibt auch Geschichten der Flüchtlinge von Enge, Frust, von Missverständnissen und enttäuschten Erwartungen, die vielleicht nie zu erfüllen waren.
9 Uhr, Sülzbrack (Kirchwerder), 270 Plätze: Fern von Schmerz und Stadt
2. Sülzbrack
Der Lärm und die Weltpolitik sind weit weg von Kirchwerder, besonders fern an diesem Morgen. Die Sonne beleuchtet HSV-Fahnen an Pfählen in den Vorgärten, die Polizeiwache ist ein Wohnhaus, daran hängt eine Urlaubsnotiz. Muhammed Alseid aus Syrien, 21, wirft einen Müllbeutel in die Tonnen vor der Erstaufnahme Sülzbrack und grüßt überschwänglich.
„Das Warten ist schlimm, aber es ist in Ordnung hier“, sagt Alseid. Er lebt in der Mitte einer einstöckigen Containerreihen, überquert morgens den sauberen Hof in der Mitte der Unterkunft hinüber zu den Containern, wo der Essenssaal ist, eine Kita mit bunten Buchstaben an der Tür, eine Fahrradwerkstatt, zwei Räume für Beratungsgespräche in Asylfragen.
Die Teamleiterin von „Fördern & Wohnen“ macht morgens einen Rundgang, „die Größe der Einrichtung ist perfekt“, sie kennt die meisten Bewohner persönlich. Nur ein Rettungswagen fährt herein und zieht die Blicke von Bewohnern auf sich, die auf Stühlen vor ihren Containern in der Sonne sitzen. Wozu die Rettungskräfte im Einsatz waren, will die Leiterin nicht sagen, sie wolle „die Anwohner schützen“, aber Krankheiten gebe es kaum, auch sonst keine unbeherrschbaren Probleme am Sülzbrack.
Die Albanerin Bruna, 37, hat ihre Handtasche gepackt und geht hinaus auf den Sülzbrack. Ihr Mann wollte nach Deutschland fliehen, hier gebe es bessere Jobs, samt ihren drei Kindern kam die muslimische Frau nach Hamburg. Nun versucht sie mit einem Lächeln ihren Frust zu verbergen. „Hier gibt es nichts zu tun“, sagt Bruna, das Essen sei nicht immer halal, für Muslime erlaubt, es gebe keinen richtigen Unterricht für die Kinder. „Sie verlieren nur Zeit, zu viel Zeit. Immer nur essen, schlafen, am Wochenende gucken die Kinder mit Papa Fußball“, sagt Bruna, beim SC Vier- und Marschlande, der die Flüchtlinge eingeladen hat.
Ob sie zurück nach Albanien wolle? Bruna überlegt, ihr Mund kneift sich zusammen, „nein, kein guter Platz für Muslime“, dann geht sie. Sie will zu einem Arzttermin, wird einen Kilometer mit kleinen Schritten an den Wiesen entlangtrippeln, dann mit dem Bus fahren, der 50 Minuten zum Hauptbahnhof braucht, und viel nachdenken, über ihr neues Leben.
11 Uhr, Dratelnstraße, 1500 Plätze: Die Sehnsucht nach dem Container
3. Dratelnstraße
Der Dieb kam nachts, sagt Mohammed Mustar, 19, als alle sich gegen die Kälte in ihre Schlafsäcke auf den Feldbetten kauerten. Einem Mann habe er Betäubungspulver unter die Nase gehalten und dann alles mitgenommen, eine antike Armbanduhr und die Handys der Bewohner, die für Flüchtlinge unermesslichen Wert besitzen.
„Mit 15 Leuten in einem Zelt zu leben ist hart, Mann, hier besonders“, sagt Mustar, seit 2011 auf der Flucht aus Syrien, zuletzt zwei Jahre in Bulgarien und Bremen, nun in der Drateln- straße. „Der Wind zieht manchmal wie ein Stich durch das Zelt. Die Deprimierten werden noch trauriger, die Kriminellen noch krimineller“, sagt Mustar, der mit 19 Jahren wie ein Mittvierziger spricht und überlegt, einen Bericht zu schreiben, über den Alltag im Camp und die Hoffnung.
800 von 1500 Bewohnern wachen morgens auf dem hinzugebauten Zeltplatz auf, wo es nach nassem Hund riecht, wie einige sagen. Sie schauen auf das Hauptgelände am Ende eines kurzen Pfades. Dort sind die Wege besser befestigt, im Erdgeschoss die Klassenzimmer und Räume mit den Waschmaschinen, vor denen sich zu jeder Tageszeit Schlangen bilden. Vor allem stehen dort Wohncontainer, in denen es Wärme, Tische und Stühle gibt, der Sehnsuchtsort für die Flüchtlinge vom Zeltplatz, die am Nachmittag lieber in der Gegend vor der Unterkunft umherlaufen, die wenig bietet.
„Ich frage jeden Tag, wann ich in den Container kann. Und immer heißt es: ,Morgen, Morgen‘“, sagt Ahmad Saied, 21, aus
Afghanistan. Für de n Umzug in den Container müssen die Flüchtlinge ein weiteres Gespräch mit den Behörden absolvieren, meist in den Verwaltungsräumen im oberen Teil der Containertürme, dort pappen Zettel mit den Aufschriften „Arabisch!“ und „Eritrea!“ neben den Raumtüren.
Vor allem die Syrer verstehen nicht, warum sie noch immer warten müssen, „ich brauche noch ein Jahr an der Uni, dann bin ich Ingenieurin“, sagt Ola al Sleiman, 21, eine fröhliche Frau mit bunt kariertem Kopftuch. „Hamburg ist so schön, ich habe geweint, als ich die Alster sah“, sie fächert sich mit den Händen Luft zu. Aber ich will auch etwas zurückgeben.“ Wenn die Mitarbeiter der Unterkunft die Zeltbewohner zum Interview abholen wollen und sie nicht antreffen, hätten die Flüchtlinge Pech gehabt und müssten weitere Tage, manchmal Wochen warten.
„In Bremen bekommen die Leute am ersten Tag gleich Taschengeld und werden schnell registriert“, sagt Mohammed Mustar. „Hier gibt es nur Ausreden“, in allen Unterkünften beklagen sich einzelne Bewohner, dass die 146 Euro im Monat nicht ausgezahlt würden.
Die Leiterin der Unterkunft Dratelnstraße reißt täglich Kilometer auf zierlichen Füßen im Camp ab, einst floh sie aus dem Iran nach Hamburg, sie ist kaum 35 Jahre alt, ihre helle Stimme kann sie in acht Sprachen gießen. „Wir suchen die Flüchtlinge für die Gespräche, bis wir sie finden“, sagt sie, „aber natürlich ist die Situation fordernd, für alle Mitarbeiter.“
Die Stadt hat das Containerdorf an der Dratelnstraße aufgerüstet, mit Dolmetschern, Psychologen, großen Klassenräumen und täglich verfügbaren Ärzten, die anderswo nur zweimal die Woche vor Ort sind. Im Pausenraum und dem ehemaligen Büro der Leiterin stapeln sich Kleidungs- und Kofferspenden, sie leitet die Geschicke nun von einer Kammer aus. Nur lasse sich nicht alles mit Einsatz und Spenden wettmachen. „Ich weiß leider aus Erfahrung, dass ein, zwei Jahre des Elends dazugehören können“, sagt sie.
12 Uhr, Ohlstedter Platz, ca. 420 Plätze: Die neuen Nachbarn im Dorf
4. Ohlstedter Platz
Khalil Ramany, 27, hängt sich ein Handtuch um den Hals und will Deutsch lernen, aber dann überlegt er es sich anders. Mehr als zwei Dutzend Bewohner sitzen in einem grünen Zelt mit Holzbänken, in dem eine Ehrenamtliche nach Kräften Vokale vorsagt. „Alles voll“, brummt Ramany, er kennt das, also sieht er nach dem Rechten.
Zwischen den Wohnzelten der Bundeswehr rollt ein herrenloser Fußball, zwei Dutzend Kinder drängen sich um einen kleinen Kickertisch, vor dem Eingangstor hält ein schwarzer Porsche Panamera, der Fahrer streckt einen Beutel mit Spenden aus dem Fenster. „Wir bekommen Kuchen, Süßes, Spielzeug. Die Leute sind so barmherzig, wie Familie“, sagt Ramany.
Mit Frau und Kind wohnt der Afghane seit einem Monat auf der Lichtung im hohen Norden der Stadt, nur wenige Male fuhr er mit seinem Sohn bisher in die Stadt, als ein Mitbewohner ein HVV-Gruppenticket für einen Arztbesuch bekam. Der Kleine drückte sich in der S-Bahn die Nase an der Scheibe platt, Ramany wollte pünktlich zurück sein. „Wir sind frei, wenn wir uns an die Regeln halten“, sagt der Familienvater. Deshalb geht er sofort dazwischen, wenn sich Streit anbahnt. „Wir sind alle Freunde, erinnert euch“, sagt er dann. Die Nächte seien ruhig in Ohlstedt, die Armeezelte wasser- und sturmdicht, mit der anderen Familie in seinem Zelt hat sich Ramany angefreundet. „Es ist alles gut“, sagt er.
„Rede keinen Unsinn“, herrscht ihn ein Mann mit kurzen Haaren von der Seite an. Nichts sei gut, es gebe keine Perspektive. Der Mann schlackert mit dem Ärmel seiner Trainingsjacke, ruft „alles feucht, alles feucht. In einem Monat werden die Kinder krank sein, glauben Sie mir, ich bin Arzt.“
Der aufgebrachte Mann will eine Demonstration organisieren, weil das Taschengeld nur in der Harburger Poststraße ausbezahlt wird, am anderen Ende der Stadt. Ramany fordert ihn auf, leise zu sprechen. „Es ist nicht alles perfekt, aber wir müssen etwas Geduld haben. Das Glück kommt von alleine“, sagt Ramany.
In Afghanistan sei er Boxer gewesen, wild und stur, in Ohlstedt müsse alles seine Ordnung haben. Bei „Ordnung“ strahlt Khalil Ramany, nach einem Monat scheint er schon sehr deutsch zu sein. Eine Unternehmerin, die einem Bewohner mit seinem Handy hilft, sagt, es sei „schräge“, das grüne Flüchtlingscamp im reichen Ohlstedt. „Aber diese Menschen gehören zum Stadtteil, ohne Wenn und Aber.“
13 Uhr, Jenfelder Moorpark, 720 Plätze: Das Leben nach der Krätze
5. Jenfelder Moorpark
Das Eingangstor aus Bauzaunstücken ist geschlossen, darüber ragen die Zeltspitzen. Zwei Lastwagen rollen auf die Wiese am Moorpark und bringen Hilfsgüter heran, es sind weitere Spenden aus der Abendblatt-Hilfsaktion im Juli. Sayed Hashimi, 24, ist schon von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, in Shorts und T-Shirt, „dumme Sache, diese Krätze“, sagt er. In Afghanistan war er Dolmetscher für die US-Truppen, er spricht noch immer das deftige Englisch eines jungen Soldaten, aber die Deutschen seien anders, „hier ist gar nichts so, wie erwartet“.
Hashimi kam vor sechs Wochen als Erstbewohner nach Jenfeld, Anwohner hatten gegen den plötzlichen Aufbau protestiert. Vor vier Wochen begann ein Mitbewohner, sich an Armen und Beinen wild zu kratzen, Hashimi brachte ihn ins Krankenhaus. „Ich habe ein Ticket fürs Schwarzfahren bekommen, aber ihm wurde geholfen“, sagt Hashimi. Danach wurde wegen der Krätze niemand mehr aus oder in die Einrichtung verlegt, bis zum vergangenen Wochenende. „Ein Bus hat uns zu den Messehallen gefahren, und wir wurden untersucht, hier sauber gemacht. Das war alles nötig und in Ordnung, mal ein Ausflug“, sagt Hashimi.
Eine Frau mit breiten Schultern und Gummihandschuhen diskutiert an diesem Mittag mit einem weiteren Mitarbeiter, sie hat erfahren, dass die alten Klamotten mit den Krätzmilben noch auf der anderen Seite vor der Unterkunft liegen sollen, einfach in Müllsäcke gestopft und gestapelt. „Und jetzt haben wir auch noch Politiker da, na Mahlzeit“, sagt die Wachfrau und zeigt auf zwei blonde Frauen, die eifrig nicken, oft „prima“ sagen und einige Spenden übergeben, als könnten sie auf der Stelle den Weltfrieden bringen.
Tagsüber kommen mehr Jenfelder mit Spenden zum Camp als Anwohner heraus, sagt Sayed Hashimi. In den vergangenen Tagen wurden viele neue Flüchtlinge einquartiert, sie müssen sich erst an alles gewöhnen.
Margit Köther, 75, die ein paar Straßen weiter wohnt, hat sich mit einem jungen Afghanen angefreundet, ein „adretter junger Mann, ich war sofort verliebt“, sagt sie. In Jenfeld wohnten einfache Leute, „und die Anwohner beschweren sich jetzt nicht mehr, sondern helfen“. Eine Frau von gegenüber hält ihre beiden Hunde an der Leine dagegen mit einem Ruck weit vom Camp fern, „ohne Kommentar, das alles“, sagt sie und zieht davon.
Am folgenden Tag wird ein Reisebus vor der Unterkunft halten und auch Eman Ahmad, den werdenden Zahnarzt von der Poststraße, in Jenfeld absetzen. „Kein Geld, kein Platz“ wird er sagen, und immer wieder „very, very bad“, sehr schlimm. Bei der Ankunft hätten sie ihm gesagt, dass er länger in Jenfeld bleibe, „mehrere Monate“. Es gebe keine Chance auf einen Transfer, erst recht nicht auf ein Einzelzimmer.
14.30 Uhr, Sportallee, 600 Plätze: Schwitzen gegen das Trauma
6. Sportallee
Der Syrer in der Jeanshose holt im Kellerraum der Erstaufnahme zu einem wilden Schwinger mit der Rechten aus, Artem Harutyunyan reißt den Handschuh hoch und pariert. „Komm, noch mal!“, ruft Harutyunyan, Profiboxer im Halbweltergewicht, stellt sich breit hin, federt den nächsten Schlag ab. Als Säugling kam er vor 24 Jahren aus Armenien nach Hamburg, am 22. September wird Harutyunyan in Wilhelmsburg um den WM-Gürtel boxen.
Er habe niemals vergessen, wo er herkam, sagt Harutyunyan. Der 25-Jährige hat keine direkte Erinnerung an die Unterkunft, „aber als ich hier reinging, kam mir alles bekannt“ vor. Für eine halbe Stunde trainiert er fünf Flüchtlinge zwischen Versorgungsrohren und kalten Wänden, posiert danach für ein Foto. Er will mehr organsieren, regelmäßige Boxstunden in einer Halle, mit dem Hamburger Boxverband.
„Die Männer brauchen ein Ventil“, sagt Carolina Smolny, Sozialmanagerin, sie musste eine Genehmigung für den Termin organisieren. „Boxen hat eine enorme Wirkung darin, angestaute Gefühle freizusetzen.“ Das Training sei bei den alleinstehenden Bewohnern beliebt, für die es im Gegensatz zu Familien nicht viele Angebote gibt.
Immerhin gibt es Arsen Kostojew, ein Flüchtling aus Inguschetien, der seit einem Jahr einmal in der Woche mit den Bewohnern ein Boxtraining macht. Manchmal brechen die Männer zwischen zwei Schlägen in Tränen aus. Dann unterbricht Kostojew, beugt sich vor, spricht und umarmt. „Er hat das Gefühl , was diese Menschen durchgemacht haben“, sagt Caroline Smolny.
Er würde gerne mehrmals die Woche trainieren, sagt Kostojew, aber er muss sich nach sieben Jahren in Deutschland weiter um seine eigene Zukunft sorgen. „Ich sollte mehrfach abgeschoben werden, bin noch Asyl“, sagt Kostojew. Er wog selbst einmal 100 Kilogramm, nun ist er drahtig, „der Stress“, sagt er. „In der Erstaufnahme ist dein Körper frei, aber dein Kopf wie im Knast“, sagt Kostojew. Er könne die Menschen nicht alleinelassen.
15 Uhr, Schwarzenbergplatz, Harburg, 750 Plätze: Warten auf der Hügelspitze
7. Schwarzenbergplatz
Barauzka Petrooc, 19, überquert leicht gebückt den Vorplatz am Schwarzenberg, es gab Nudeln zum Mittag, „wie so oft“, sagt sie, nun verbringt die gelernte Friseurin Zeit damit, herumzulaufen. „Ich kenne mich schon ganz gut aus“, sagt die Serbin, seit vier Monaten wohnt sie mit ihrem Freund in einem Container, eigentlich sollen die Flüchtlinge maximal drei Monate in den Erstaufnahmen verbringen.
Die Behörden nennen Menschen wie Petrooc „Überresidenten“, weil noch immer nicht über ihren Asylantrag entschieden wurde. Die junge Frau blockiert damit Plätze für neue Flüchtlinge. Mehr als 3000 Gäste dieser Dauergäste gibt es inzwischen in Hamburg, im Juni waren es noch 2300. Ein großer Teil dieser Menschen ist nur deshalb noch in den Erstaufnahmen, weil es zu wenige Folgeunterkünfte gibt, in denen akzeptierte Asylbewerber mittelfristig leben können. „Der Rückstau nimmt immer weiter zu, das führt zu Frust, Ärger, auch Gewalt“, sagt ein Beamter.
Am Schwarzenberg kam es schon im Mai zu Massenschlägereien am Schwarzenberg wegen einer Waschmaschine. Die Leitung änderte die Mischung, mehr Familien, weniger junge Männer. „Es werden immer noch viele schmutzige Sachen gerufen, wenn wir über das Gelände gehen“, sagt Petrooc, ihr Freund verteidigt sie dann, oft bleibt das Paar den ganzen Tag im Container. „Wir hoffen noch auf einen Job und ein Leben in Hamburg“, sagt Petrooc, in Serbien gebe es keine Zukunft für sie, niemals. Ende September soll eine Entscheidung fallen, ob das Paar zumindest den Status einer Duldung erhält, oder abgeschoben wird. Bis dahin warten sie, „wir werden schon klarkommen“, sagt Petrooc.
16 Uhr: Niendorfer Straße, 320 Plätze: von Freunden umzingelt
8. Niendorfer Straße
Die jungen Südländer, die zunächst wenige hier haben wollten, stehen am Tor und machen Scherze. „Hier redet man viel miteinander. Im Camp und außerhalb“, sagt der Afghane Zaki Khushnood, 19 Jahre, der inzwischen in Bergedorf untergebracht ist und für einen Kurzbesuch nach Niendorf zurückkam. Auf dem lang gezogenen Weg vor doppelstöckigen Containerreihen stehen Mitarbeiter des Vereins Spieltiger und lassen Flüchtlingskinder über Seile springen, vor dem satten Grün der dahinter liegenden Wiese. „Schlecht ist, dass es kein WLAN und kein pünktliches Taschengeld gibt, aber wir sind dankbar“, sagt Khushnood.
Bezirksamtsleiter Torsten Sevecke (SPD) schloss eine Erstaufnahme an der Stelle einst aus, im November wurde sie doch geplant, als eine Anlage mit 320 Plätzen noch als riesig galt. Die Anwohner hatten viele Fragen, wie lange solle die Anlage bestehen, was sei mit der Kriminalität. Dann bildete sich in wenigen Wochen ein Schwarm von Freiwilligen, „das größte Netzwerk von allen Erstaufnahmen in Hamburg“, wie Mitarbeiter der Unterkunft sagen.
Die Ehrenamtlichen sammeln Spenden, sie haben ein Café geplant, heißen die Neuankömmlinge willkommen. „Hier zeigt Hamburg, was für eine wunderbare Stadt sie ist“, sagt eine Führungskraft, ein Endzwanziger. „Wir brauchen diese Kraft, hier und anderswo.“
18 Uhr,Schnackenburgallee, ca. 2800 Plätze: Schwanger im Schmelztiegel
9. Schnackenburgallee
Ihr Kleid spannt jetzt über dem Bauch, achter Schwangerschaftsmonat. Maryam Ab Hasan, 35, kann nur hoffen, dass ihr ungeborener Sohn sich Zeit lässt. „Wir müssen hier raus, bevor er kommt“, sagt die Syrerin und zeigt auf die vielen Zelte und Wege, die schachbrettförmig in den Volkspark geschüttet wurden.
Die Leitung hat der Syrerin, ihrem Mann und ihre erste Tochter Revan, 8, einen eigenen Container gegeben, sie schlafen nah am Haupttor, aber auch an einer Konfliktlinie. „Es gibt jeden Tag Streit“, sagt der Flüchtling Ali Melham, 23, die Menschen aus den Zelten verstehen nicht, warum einige schon Aufenthaltstitel hätten, aber noch in den Containern der Erstaufnahme leben, während die Kälte heranzieht.
Immer sammelten sich kleine Gruppen, sie pöbelten und riefen, bis wieder die Polizei kommt. „Die holen ein Mikrofon raus und sagen nur: fünf Minuten“, sagt Melham, dann würden die Beamten eingreifen. Daraufhin legt sich die Aufregung, „bis zum nächsten Mal“. Auf dem Zeltplatz feiern einige Familien mit Tanz, Alkohol und Gesang bis tief in die Nacht, „das macht die Araber wahnsinnig“, sagt Melham. Wenn die Stimmung in der „Schnacke“ kippt, habe die ganze Stadt ein großes Problem, heißt es aus dem Senat.
Maryam Ab Hasan und ihr Mann sind Akademiker, sie hat als Grundschullehrerin gearbeitet. „Wir waren schockiert, als wir hierhergebracht wurden“, sagt Hasan. Selbst unterrichten darf die Syrerin nicht, Tochter Revan soll die beste Bildung erhalten. „Aber es k ommen und gehen so viele Leute in das Camp, dass die Lehrer immer wieder ganz vorn beim Alphabet anfangen“, sagt die Frau.
Zu gerne würde sie auch selbst kochen, das Fleisch und den Reis aus der Großküche vertrage sie nicht. „Wir geben unser Geld für Essen und Telefonate aus“, sagt das Ehepaar, 292 Euro im Monat. „Pleite“, ruft Hasan auf Deutsch und lacht. Sie haben mit ihrem Sohn Camps im Libanon und der Türkei überlebt und gelernt, Sorgen mit Humor zu bekämpfen. „Nach drei Monaten wüssten wir einfach gern, ob wir eine richtige Chance in Deutschland bekommen.“
Etwa Ende September werden sie zur Entbindung in das AK Altona kommen, so viel wissen die Eheleute. Auch Kleidung für ihr Baby wird es geben, die Luther-Gemeinde Bahrenfeld sammelt und koordiniert die Ausgabe von Spenden. Viele Bewohner aus der Schnackenburgallee helfen inzwischen beim Sortieren, sagt die Leiterin Bettina Buhr, sie notieren jedes auf Deutsch gesprochene Wort in Lautschrift und seien „motiviert bis in die Latschen“.
An den Ausgabetagen stehen morgens schon mehrere Dutzend junge Männer bei Bettina Buhr auf dem Hof, „bei Markenklamotten und Haargel kriegen sie leuchtende Augen, wie das in dem Alter eben so ist“, sagt Buhr. Einige verlieren dabei offenbar die Geduld, bei der Polizei gingen mehrere Anzeigen gegen unbekannt ein, wegen Einbruchdiebstahls. „In der Situation müssen alle verzeihen können und für das Gute im Menschen sorgen“, sagt Buhr, deshalb arbeitet sie ehrenamtlich, manchmal 60 Stunden die Woche.
19 Uhr, Messehallen, 1200 Plätze:
„Jeder hat zwei Möglichkeiten“
10. Messehalle B6
An der Tür herrscht Hektik, die Freiwillige Alina Schönfelder, 26, versucht den Andrang zu steuern. Die Bewohner der Unterkunft in der Messehalle B6 wedeln mit Flyern und wollen an Bord, zu einer Stadtrundfahrt im Doppeldecker. „Wir machen das zum ersten Mal“, sagt Schönfelder, strahlt unter ihrer Brille: „Scheint ganz gut anzukommen.“
Der Bus fährt ab, vor den Treppenstufen stehen noch mehr Freiwillge, vergeben Gratistickets für den Circus Roncalli. Oben sitzt eine blonde Frau und spielt Gitarre, „sit down with me“ hat sie auf ein Schild geschrieben, ein junger Afghane hockt im Schneidersitz daneben und wischt sich Tränen aus dem Gesicht.
„Wir müssen aufpassen, dass man andere Unterkünfte nicht vergisst“, sagt ein Ehrenamtlicher, die Messehallen liegen zentral und scheinen derzeit das Epizentrum der Hilfsbereitschaft zu sein. Ousman Saho, 25, aus Mali beobachtet das Treiben vor seiner Unterkunft, das ihn rührt, fast jeden Abend.
Den Tag über haben die Flüchtlinge rumgehangen, draußen am Karolinenplatz und drinnen zwischen Feldbetten, spärlichen Schutzwänden. „Es ist mehr eine Höhle als eine Halle“, sagt Saho, eine ständige Kakophonie aus Stimmen, „bei den Deutschkursen verstehst du kein Wort“, sagt Saho. Der Sicherheitsdienst der Messehallen helfe nicht, sagen Bewohner, Männer streunten umher, schimpften, stählten.
Abends sagt Saho den anderen, sie sollen rausgehen vor die Tür, um zu demonstrieren gegen die Zustände, oder ihre Sicherheit zu feiern. Die Nachbarschaft hat ihnen Instrumente organisiert. Auch an diesem Mittwoch sammeln sie sich langsam auf den Treppen, Afrikaner und Albaner, Syrer und Afghanen, sie einigen sich auf Vokale, trommeln, bis ein Lied entsteht, das sich steigert in Lachen und Tanz.
Ousman Saho ist schon Jahre auf der Flucht, seit drei Wochen in Deutschland, ein normaler junger Mann mit Käppi und Flechtzöpfen. „Jeder hat hier zwei Möglichkeiten: so zu Leben, wie es in der Halle ist – oder so zu sein, wie Hamburg ist.“ Saho stellt sich vor die musizierende Meute, greift eine Trommel, hebt den Kopf und schließt die Augen. In diesem einen Moment scheint sich für ihn etwas zu fügen.
Der Text erschien zuerst im Magazin des Hamburger Abendblatts vom 5. September
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