Die Flüchtlinge verändern uns. Künftig wird nicht mehr die gemeinsame Abstammung, sondern das Teilen gemeinsamer Werte Identität stiften

Der Begriff der Nation und das auf sie bezogene Wort national entfalten in vielen Staaten der Erde eine gewisse Wucht. Was mit dem Begriff national geadelt wird, hat Bedeutung. Das ist auch und besonders in den für Deutschland so wichtigen Ländern USA und Frankreich so. Denken wir an die machtvoll-berüchtigte National Security Agency, die NSA, oder die elitäre École Nationale d’Administration.

In Deutschland ist der Begriff Nation bestenfalls blutleer geblieben und wird höchstens zu Sonntagsreden mal aus der Vitrine geholt. Eine echte Debatte über das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation findet kaum statt. Das Wort national wird meist gemieden, als sei es radioaktiv verstrahlt. Das liegt natürlich an seiner Vergiftung durch die Nationalsozialisten. Die DDR strich den Begriff „Deutsche Nation“ sogar aus ihrer Verfassung.

Dabei ist Deutschland ohne Frage eine Nation. Doch was passiert mit diesem Begriff im Zuge der europäischen Einigung? Und wird er gar gänzlich überflüssig durch den Zustrom von Hunderttausenden Menschen aus fernen Weltgegenden?

Ganz im Gegenteil. Der Begriff der Nation wird in einem ethnisch vielfältigeren Deutschland keineswegs entbehrlich, sondern sogar wichtiger.

Allerdings erfährt er eine tief greifende Änderung. Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat einmal gesagt, eine Nation werde nicht vorgefunden, sondern erfunden; sie sei also eine „erfundene Tradition“. Im Falle Deutschlands wird sich die Nation weiter neu erfinden müssen. Denn traditionell hat sie sich lange Zeit vor allem über die ethnische Abstammung, das Blut also, definiert. In einer Welt, in der Abermillionen Menschen in Bewegung geraten sind, Grenzen überwinden und sich mit anderen Völkern mischen, in einem Land zumal, das als große Außenhandelsnation die Grenzen für ungehinderte Warenströme offen halten muss, wäre eine Abschottung das Rezept für den Niedergang.

Deutschland ist vor allem eine Kulturnation, die sich auf eine gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition, ein Rechtsverständnis und vieles andere stützen kann und eine gemeinsame kulturelle Identität entwickelt hat. In diesem Sinn, als Klammer und Ankerpunkt, ist der Nationenbegriff von großem Wert. Es sind Entwurzelte, die zu uns kommen; und jene, die bleiben wollen, können Teil einer großen Nation werden, deren Werte, darunter Rechtssicherheit, es wahrhaft wert sind, verteidigt zu werden. Es ist eine große Chance für die Menschen, die vor Gewalt, Intoleranz und Willkür fliehen – aber auch für das überalterte Deutschland. Die schrumpfenden Staaten Osteuropas werden es noch bedauern, dass sie sich einer solchen Infusion verweigern. Allerdings bedeutet dies auch, dass jeder, der sich anschicken will, Intoleranz, Korruption und Gewalt nach Deutschland zu importieren, hier absolut nichts zu suchen hat.

Der Politikwissenschaftler Rudolf von Thadden schrieb hellsichtig im Jahre 1994, dass „die Frage nach dem historischen Ort der Nation neu durchbuchstabiert werden“ müsse. Es müssten dann nicht nur die Erfahrungen der Deutschen in beiden Teilstaaten der Nachkriegszeit, sondern auch die veränderten Rahmen- und Strukturbedingungen nationaler Identität reflektiert werden. Zum einen müsse sich die Nation der Deutschen im Zusammenhang mit der Europäischen Union legitimieren. Zum anderen aber stehe sie vor der Aufgabe, eingewanderte Neubürger aus anderen Kulturen zu integrieren. „Das freilich kann sie nur als Staatsbürgernation und nicht als ethnische Abstammungsgesellschaft leisten“.

Das bedeutet also, die Definition von Nation erfolgt nicht länger über das Blut, sondern vor allem über Geist und Wert. Ähnlich wie es – zumindest idealtypisch – in den USA der Fall ist, heißt es dann: „Ich habe dieselben Werte wie ihr – also gehöre ich zu Eurer Nation.“ Der Begriff der Nation widerspricht also keineswegs dem europäischen Einigungswerk, sondern wirkt in einem Europa der Regionen einer kulturell gesichtslosen Beliebigkeit entgegen. Das schließt natürlich nicht aus, dass die deutsche Nation eines – wohl noch sehr fernen Tages – Teil einer europäischen Nation werden kann.