Das Gesundheitswesen braucht eine Generalüberholung, sagt unser Gastautor. Woran Patienten besonders leiden.
Bei den gegenwärtigen Protesten in den Praxen geht es vordergründig um die angekündigte Streichung der Neupatientenregelung. Dabei war diese erst 2019 eingeführte und von Gesundheitsminister Karl Lauterbach unterstützte Regelung gerade in Schleswig-Holstein auch für viele Hausärztinnen und Hausärzte und grundversorgende Facharztpraxen ein Segen, da z.B. im Speckgürtel von Hamburg mit Zuzug und in den Touristenhochburgen neue Patientinnen und Patienten kostendeckend und zeitnah versorgt werden konnten. Die Praxen, die hier in neue Räumlichkeiten und Personal investiert hatten, haben, ob der wankelmütigen deutschen Gesundheitspolitik, nun das Nachsehen.
Aber eigentlich geht es bei den Protesten noch um sehr viel mehr. Was selbstständige Ärztinnen und Ärzte und ihr Personal (im Wesentlichen Medizinische Fachangestellte; MFA) und zunehmend auch angestellte Ärztinnen und Ärzte bis zum Rande der Erschöpfung in Eigeninitiative und mit großem Engagement besonders auch während der Pandemie geleistet haben und noch leisten, ist weitgehend ohne Wertschätzung der Öffentlichkeit und Politik geblieben. Im Gegenteil, es wird auf „Mitnahmeffekte beim Impfen“ und immer wieder auf die hohen durchschnittlichen Einnahmen der Praxen verwiesen, wissend, dass es regional und von Fachgruppe zur Fachgruppe große Unterschiede gibt. Immer wieder macht das in die Mottenkiste gehörende Klischee des porschefahrenden und golfspielenden Arztes die Runde!
Ärzteprotest: Je ferner vom Patienten, desto besser bezahlt
Dabei verdienen gerade die haus- und fachärztlichen Grundversorger am geringsten, je ferner vom Patienten, je invasiver die Behandlung und Diagnostik, umso mehr wird im deutschen Gesundheitswesen verdient. Allerdings war das ambulante System auch vor der Pandemie und Energiekrise schon kaputtgespart worden und viele Praxen konnten sich nur über Wasser halten, weil das Personal schlecht bezahlt und den Patienten zusätzliche Leistungen angeboten wurden.
Die inzwischen fehlenden Effizienzreserven zeigen sich in eklatanter Weise bei Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) in der Hand von Krankenhäusern oder Kommunen. Soweit sie eine medizinische Basisversorgung und keine Spezialisierungen (wie z.B. Leistungen der Radiologie, Augen- oder Nierenheilkunde sowie Labormedizin, die auch bei Investoren beliebt sind) oder nur lukrative Leistungen anbieten und so zu Rosinenpickern werden, schreiben sie rote Zahlen. Denn angestellte Ärztinnen und Ärzte gehen pünktlich nach Hause und müssen nicht all die Arbeit leisten, die ein Selbstständiger im Land des bürokratischen Overkills noch nach Feierabend zu leisten hat.
Was MVZ für die Patienten bedeuten
Diese Arbeit ist in keiner Leistung mehr eingepreist, in den oben genannten MVZ, die noch Basisversorgung leisten, muss daher ein Management aus anderen Mitteln finanziert werden und dann rechnet sich die ambulante Versorgung nicht mehr. Nicht nur, dass dem Mittelstand das Leben – nicht zuletzt auch durch Vorgaben aus Brüssel – schwer gemacht wird, die Regulationswut eines Sozialgesetzbuches V (SGB V), eine unausgereifte Telematikinfrastruktur und der deutsche Kontrollwahn treiben die niedergelassenen, selbstständigen Ärztinnen und Ärzte in den Wahnsinn und ihnen die Zornesröte ins Gesicht. Denn wir waren angetreten, um Patienten zu versorgen und nicht um die Hälfte unserer Zeit, einer Misstrauenskultur geschuldet durch endlose und wiederkehrende Verwaltungsakte dem Staat und den Krankenkassen zu dienen.
Hinzu kommt, dass die veraltete Abrechnungssystematik (EBM, GOÄ alt) mit einer drangsalierenden Budgetierung einhergehend wirtschaftlich schon lange nicht mehr den Aufwand und das komplexe Geschehen in den Praxen abbildet und dies unabhängig von explodierenden Energiekosten und steigender Inflation. Kein Wunder, dass sich immer mehr Ärzte lieber anstellen lassen und das skizzierte Risiko mit großer Tendenz zur Selbstausbeutung nicht mehr in Kauf nehmen. Mit wenigen Diensten z.B. im kassenärztlichen Notdienst lässt sich heute mehr verdienen als in einer eigenen Praxis, die dient eher zum Steuermindern, soweit Abschreibungen möglich sind. Das Geld wird zunehmend außerhalb des gesetzlichen Versicherungsrahmens verdient. Wen wundert das?
Als wenn alle Restaurant-Gäste umsonst essen dürfen
Wollte man dieses System nur annähernd verstehen, so könnte man in einem Gedankenmodell die Bedingungen des Gesundheitswesens auf sein Lieblingsrestaurant übertragen:
Unser Lieblingsrestaurantbesitzer bekommt für 850 Gäste im Quartal ca. 55 Euro, egal wie häufig diese zum Essen erscheinen, ein Teil des Geldes verdient er aber nur, wenn chronisch hungrige Gäste mindesten zweimal im Quartal kommen. Davon muss er alles bezahlen, auch wenn er einen zweiten Gastwirt zur Unterstützung anstellt oder sein Personal aufstocken möchte, eine Mengenausweitung ist nicht ohne weiteres möglich. Er darf aber dennoch keine Gäste abweisen, die Hunger haben. Kommen mehr Gäste der Stammkundschaft als erwartet, muss er diese umsonst bedienen, wenn er Glück hat, bekommt er abgestaffelte Centbeträge dazu.
Kein Wunder, wenn er hier und da sich mit privat zahlenden Kunden etwas dazuverdienen möchte, nur dass er diese auch nach Preisen, die vor 30 Jahren kalkuliert wurden, abrechnen muss. Kommen außerhalb der Stammkundschaft neue Gäste hinzu, soll er diese in Zukunft ebenfalls umsonst bedienen (analog Streichung der Neupatientenregelung). Macht das Nachbarrestaurant zu, soll er diese hungrigen Gäste ebenfalls kostenlos mitversorgen, wenn er Glück hat, werden einige dieser neuen Gäste ihm ein Jahr später bezahlt, dann darf er statt 850 vielleicht 900 Gäste zu 55 Euro im Quartal abrechnen. Wenn er sich nun über dieses System beschweren möchte, hat er kaum die Möglichkeiten dazu, denn er möchte weder seine Gäste vergraulen noch hat er ein Streikrecht! Absurd, oder?
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Karl Lauterbach ist der falsche Mann am falschen Platz
Mit anderen Worten, das Gesundheitswesen braucht eine Generalüberholung und Lauterbach scheint hier der falsche Mann am falschen Platz zu sein, er passt besser in Talkshows, wo er seine zunehmend verqueren Botschaften weiter „lanzieren“ kann! Das Sozialgesetzbuch muss generell reformiert, besser ganz neu geschrieben werden. Fehlanreize, z.B. dass invasiveres Vorgehen besser als konservatives Vorgehen. Der Zugang muss besser geregelt werden, damit Patientinnen und Patienten zeitnah in die richtige Versorgungsebene gelangen. Darüber hinaus muss eine intersektorale und transprofessionelle Teamarbeit hineingedacht werden. Leistungen müssen leistungsgerecht und gleich bezahlt werden, egal wo sie erbracht werden.
Vor allem müssen sich die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen für alle Beteiligten verbessern, denn die machen krank! Immer weniger wollen daher noch in ihrem Beruf weiterarbeiten, selbst Medizinstudenten überlegen schon Alternativen und die Burn-out-Rate ist bedenklich hoch. Geschätzt über 100.000 Pflegende arbeiten nicht mehr in ihrem erlernten Beruf, dabei werden sie dringend gebraucht. Um all dies zu ändern, bedarf es lediglich den Willen und etwas Mut. Dass dafür kein Geld bereitstehen sollte, kann uns nach großzügigen Hilfen bei Corona und Energiekrise keiner mehr erzählen.
Wir Ärztinnen und Ärzte werden trotz fehlenden Streikrechts Courage zeigen und den Finger weiter in die Wunde legen. Dies tun wir in erster Linie für unsere Patientinnen und Patienten und nicht für unseren Geldbeutel. Denn wenn es keine Termine mehr gibt, leiden vor allem sie/Sie! Dies tun wir auch mit reinem Herzen, denn das Wort „Courage“ leitet sich von dem lateinischen Wort für Herz „Cor“ ab. So handeln wir aus dem Herzen für das Gute unserer Patientinnen und Patienten – mit anderen Worten: sie/Sie sind uns eine Herzensangelegenheit!
Dr. Swante Gehring ist Facharzt für Innere Medizin und betreibt mit zwei Kolleginnen eine Hausarztpraxis in Norderstedt. Er ist Vorstandvorsitzender der Ärztegenossenschaft Nord, die u.a. im Auftrag der Kommunen inzwischen neun Zentren in Schleswig-Holstein managt, weil keine Ärztinnen oder Ärzte in diesen Regionen mehr Praxen übernehmen wollten und lieber angestellt arbeiten. Er ist Vorstandsmitglied der Ärztekammer Schleswig-Holstein.