Hamburg. Niedergelassene Ärzte protestieren am Mittwoch gegen Sparpläne des Ministers – dahinter stecken auch Hamburger Besonderheiten.
Hunderte Praxen sollen am 5. Oktober geschlossen bleiben. Die niedergelassenen Ärzte in Hamburg stemmen sich in einem beispiellosen Protest gegen die Sparpläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Lauterbach saugt uns aus“, sagte Dr. Björn Parey, Hausarzt aus Volksdorf und Vizevorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV).
Es geht unter anderem darum, dass Lauterbach die zugesagte volle Bezahlung von Leistungen für Neupatienten wieder streichen will. Was das schon für eine florierende Kinderarztpraxis mit 3200 Patienten pro Quartal in Hoheluft bedeutet, weiß Dr. Charlotte Schulz (50). „Junge Mütter mit Neugeborenen müssen Klinken putzen, um überhaupt einen Kinderarzt zu finden – mitten in Hamburg. Viele Praxen haben einen Aufnahmestopp, weil sie die Versorgung sonst nicht mehr gewährleisten können.“
Wie kann das sein in einer Stadt, die sich Jahr für Jahr für ihren Baby-Boom rühmt? Die aus dem Umland Familien anlockt, die zahllose neue Quartiere aus dem Boden stampft, in denen Kinder willkommen sein sollen?
Ärtze in Hamburg: "Junge Mütter mit Neugeborenen müssen Klinken putzen"
Wenn schon ein Umzug die medizinische Versorgung der Kleinsten bedroht, auf welche Szenarien muss man sich dann anhand dieser Trends einstellen? In zahlreichen Praxen fehlen Medizinische oder Technische Fachangestellte. Hamburger Kinderärzten graut vor der nahenden „Verrentungswelle“. Viele arbeiten bis weit über 70. Und der ärztliche Nachwuchs hat wenig Neigung, mit dem wirtschaftlichen Risiko voll in eine Praxis einzusteigen.
Charlotte Schulz sagt: „Die Kassen haben eine Nullrunde ausgerufen und von Seiten der Politik wurde angekündigt, die Neupatientenregelung zu streichen, die vorsah, die erbrachten Leistungen bei der Versorgung eines neuen Patienten ohne Abschläge zu vergüten. So ist es schlicht unwirtschaftlich, unbegrenzt neue Patienten aufzunehmen.“
Sie glaubt, der Versorgungsengpass wäre behoben, „wenn alle erbrachten ärztlichen Leistungen bezahlt würden und nicht nur 80 oder gar 60 Prozent“. Die Pädiater bekommen die volle Wucht der Lage zu spüren. „Die Corona-Pandemie hat die Situation noch verschärft“, sagt Schulz. „Kinder und Jugendliche haben während des Lockdowns und der Zeit im Homeschooling vermehrt Ängste, Depressionen und Essstörungen entwickelt. Für diese Kinder und Jugendlichen brauchen wir viel Zeit und Geduld. Aber leider wird die sprechende Medizin nicht angemessen honoriert.“
Die Ärzte in der KV haben sich zu einem Protest-Komitee zusammengeschlossen, weil sie fürchten, dass die medizinische Versorgung „vor allem von sozial Schwachen und in Stadtteilen mit wenig Fachärzten“ erheblich leiden könnte, wie Allgemeinmedizinerin Dr. Silke Lüder sagte, die in Neuallermöhe in einer Gemeinschaftspraxis arbeitet. „Lauterbachs Sparpolitik wird auf dem Rücken von Alten und Kranken ausgetragen“, so Parey.
Ärzte in Hamburg: Terminchaos und Wartelisten befürchtet
Das „Aussaugen“ haben die Ärzte auf einer eigenen Homepage und mit einer Plakatkampagne illustriert, die Lauterbach als Graf Dracula zeigt. Doch der Hintergrund ist den Ärzten sehr ernst. Die erst vor drei Jahren von dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn eingeführte und von Lauterbach aktiv unterstützte Neupatientenregelung im Terminservicegesetz hat dafür gesorgt, dass Patienten, die zwei Jahre nicht in der Praxis waren, den Ärzten zu 100 Prozent vergütet wurden. Diese Regelung soll wieder gestrichen werden. Nur noch zu 80 Prozent würden die Leistungen bezahlt. Anders als im Koalitionsvertrag versprochen, solle die Budgetierung ebenso bleiben.
Gerade von der Neupatientenregel hätten aber in Hamburg 6,1 Millionen Patienten profitiert, sagte KV-Vorstandschef John Afful. Wenn Lauterbachs Ministerium behaupte, die Regelung habe nichts gebracht, sei das mit klaren Abrechnungszahlen zu widerlegen. In Hamburg, wo viele Patienten keinen Hausarzt oder Facharzt haben, wo jährlich Tausende zuziehen, wo Neubaugebiete entstehen, ist genau diese Regelung offenbar ein Erfolg für die Versorgung gewesen.
Weitere Kritikpunkte der Ärzte
Die Ärzte beklagen außerdem vier weitere Punkte, wie Hausärztin Lüder sagte:
- Es fehlen ohnehin junge Ärzte und medizinisches Fachpersonal (MFAs und MTAs) in den Praxen. Anders als die Krankenhaus-Pflegekräfte haben die Praxisangestellten keinen Pflegebonus wegen Corona-Überlastung bekommen. Dabei hätten die Praxen die meisten aller Corona-Erkrankten behandelt. MFAs wandern in die Krankenhäuser ab. Parey sagte, für den Praxisempfang suchten viele Ärzte händeringend Personal.
- Junge Ärzte lassen sich wegen finanzieller Risiken nicht mehr nieder. Medizinische Versorgungszentren (MVZ), die von Privatkapitalgebern gesteuert werden, heimsen sich in Hamburg einen nach dem anderen Arztsitz ein. Lüder: „Diese Entwicklung ist unumkehrbar.“
- Dadurch verschlechtere sich die Grundversorgung. In den MVZ bekommen Patienten zwar Termine, aber die Fluktuation bei den Ärzten und die Motivation sei eine ganz andere als in inhabergeführten Praxen.
- Und: Milliarden Euro würden verschleudert, weil Apotheken Gratismasken herausgaben und in den Praxen sinnlos technische Gerätschaften ausgetauscht werden sollen (Konnektoren). Auch Lauterbachs Idee der Gesundheitskioske kritisierte Lüder als vornehmlich Sozialarbeit.
"Hamburger Ärzteschaft sorgt sich um Versorgung der Patienten"
„Die Hamburger Ärzteschaft sorgt sich um die Versorgung der Patienten“, sagte Parey. „Die Kassen zahlen nur Quoten von der vereinbarten Vergütung aus. Wir fordern, dass diese Zwangsrabatte aufgehoben werden.“ Jetzt drohten erneut Wartelisten, ein Aufnahmestopp und die Verschlechterung der Akutversorgung. Anstatt zum Haus- oder Facharzt gingen Patienten wieder vermehrt in die Notaufnahmen, was die medizinische Versorgung noch teurer mache, so die Ärzte.
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Der Vorsitzende des Protestkomitees, der Wandsbeker Radiologe Dr. Andreas Bollkämper, sagte: Durch die offene Sprechstunde hätten Ärzte ihre Praxen umorganisiert, Personal eingestellt und Räume neu geordnet – mit finanziellem Aufwand. Nach den Worten von KV-Chef Afful haben 2800 Praxen in Hamburg die neuen Regeln umgesetzt.
Ärzte in Hamburg leiden unter gestiegenen Energiepreisen
Bollkämper sagte auch: Im Bundesrat seien die Lauterbach-Pläne von allen Parteien unisono abgelehnt worden. Alle Ärzte betonten, es müsse außerdem einen Inflationsausgleich geben. Denn die Ärzte können schließlich, genau wie die Krankenhäuser, nicht einfach „die Preise erhöhen“.
Was gestiegene Energiekosten für einen Radiologen wie Bollkämper bedeuten können, der in seiner Praxis mit mehreren Ärzten zahlreiche High-tech-Geräte betreibt, um per Magnetresonanztomografie oder Computertomografie gerissene Sehnen, feinste Verletzungen oder lebensbedrohliche Tumoren rechtzeitig zu entdecken, machte er an der Stromrechnung klar: Sie ist mit mehreren Zehntausend Euro jetzt etwa dreimal so hoch.
Am Protesttag der Ärzte am kommenden Mittwoch wird der Arztruf 116 117 verstärkt arbeiten. Die Notfallpraxen in Altona (Stresemannstraße), Harburg, am Bundeswehr-Krankenhaus und am Marienkrankenhaus werden offen sein.