Hamburg. Berichte über Straftaten von Flüchtlingen sind für Medien oft eine Gratwanderung zwischen Aufklärung und ungewollter Stimmungsmache.
Ein Flüchtling aus Somalia belästigt ein zehnjähriges Mädchen auf einem Schulhof in Ohlstedt. Zwei Nordafrikaner überfallen eine Frau in Heimfeld und berühren sie unsittlich. Junge Afghanen umringen Frauen am Jungfernstieg und fassen eine von ihnen an die Brüste. Ein arabisch sprechender Mann verfolgt an einem Nachmittag an der Dorotheenstraße zwei Frauen und entblößt vor ihnen sein Geschlechtsteil. Und eine Gruppe von 30 bis 40 "Südländern“ besteigt in Eidelstedt gemeinsam einen Nachtbus, und viele der Männer berühren eine 24-Jährige unsittlich, die sich nicht mehr rechtzeitig zwischen ihnen aus dem Bus drängeln kann.
Das ist die Zusammenfassung einiger Meldungen, die die Hamburger Polizei in den vergangenen Tagen veröffentlicht hat – also lange nach den Übergriffen von Silvester. Diese Reihung wirft viele Fragen auf. Die erste lautet: Haben wir es tatsächlich mit einem deutlichen Anstieg solcher Übergriffe in Hamburg zu tun? Werden diese tatsächlich vor allem von Menschen mit Migrationshintergrund begangen? Und drittens: Hat die Polizei nach Silvester ihre Veröffentlichungspraxis geändert? Ist es überhaupt wichtig zu wissen, woher Straftäter oder Tatverdächtige kommen? Reicht es nicht, so gegen sie vorzugehen, wie es die Gesetze festlegen? Und: Schüren Polizei und Medien womöglich eine brandgefährliche Stimmung, wenn sie die Nationalität von Tätern und Verdächtigen nennen?
Polizei bleibt bei gewohnter Praxis
Die Hamburger Polizei gibt zu diesen Fragen ein paar Antworten. „An unserer Praxis hat sich seit Silvester nichts verändert“, sagt Timo Zill, Leiter der Polizeipressestelle. „Wir haben in unseren Pressemeldungen grundsätzlich die Nationalitäten genannt, egal woher die Tatverdächtigen kamen.“ Gehe es um die Täter-Fahndung, sei eine Personenbeschreibung unerlässlich. „Wenn die Menschen nicht erfahren, ob ein Gesuchter groß oder klein, blond oder schwarzhaarig ist oder welche Sprache er spricht, können sie ja auch nicht nach ihm Ausschau halten.“ „Ob es in Hamburg tatsächlich vermehrt Übergriffe von Flüchtlingen und anderen Menschen mit Migrationshintergrund gibt und wir hier ein echtes gesellschaftliches Problem haben, müssen wir weiter beobachten“, so Zill. „Das lässt sich in so kurzer Zeit nicht abschließend sagen.“ Man könne aber den Eindruck haben, „dass sich seit Silvester das Anzeigeverhalten nach sexuellen Übergriffen geändert hat. Opfer solcher Übergriffe erstatten jetzt offenbar öfter und zügiger Strafanzeige.“
Pressekodex differenziert
Die Medien – das gilt natürlich auch für das Hamburger Abendblatt – haben es in diesen Fällen nicht ganz so einfach. Denn im Pressekodex heißt es: „In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“
Was aber kann das in der aktuellen Praxis heißen? Sollen Journalisten aus den von der Polizei auch im Internet verbreiteten Meldungen jeweils die Nationalitäten von Tätern für ihre Artikel herausstreichen? Setzen sie sich damit nicht dem Vorwurf der Manipulation aus – und tun so, als hätten sie es mit unmündigen Lesern zu tun, die einer pädagogischen Betreuung bedürfen?
Wenn das entgrenzte und kriminelle Verhalten einiger junger, oft traumatisierter Kriegsflüchtlinge nach Monaten in Containern zum wachsenden Problem für die Stadt wird – muss man das nicht offen diskutieren, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen? Auch, um diese jungen Männer wieder auf den richtigen Weg zu bringen? Oder ist es zu gefährlich, solche Diskussionen offen zu führen, weil dann womöglich irgendein irrer, rechter Mob morgen eine Flüchtlingsunterkunft anzündet?
Journalismus steckt im Dilemma
„Der Journalismus steckt hier tief in einem Dilemma“, sagt Volker Lilienthal, Professor für die Praxis des Qualitätsjournalismus an der Uni Hamburg. „Einerseits soll die Presse sagen, was ist. Es hilft auch nichts, Probleme totzuschweigen. Andererseits sind die Medien verpflichtet, gefährlichen gesellschaftlichen Stimmungen nicht Vorschub zu leisten.“ Bei der Einzelberichterstattung über Straftaten solle die Nationalität nicht erwähnt werden, so Lilienthal. Wenn es sich aber um ein gesellschaftliches Phänomen handle, „dass aus Gruppen heraus vermehrt Straftaten, etwa sexuelle Übergriffe, begangen werden, dann kann es nicht darum gehen, das Problem dadurch zu verschleiern, dass man Nationalitäten oder Herkunft verschweigt“.
Rassismus-Vorwurf oder Lügenpresse
Dabei hätten Journalisten ein „doppeltes Problem“, so Lilienthal. „ Erstens sind sie längst nicht mehr Herr über die Nachrichten, sondern haben in den Sozialen Medien eine massive Konkurrenz. Und zweitens macht die Geschwindigkeit des Online-Zeitalters das Arbeiten nicht leichter.“ Auch die jüngsten Ereignisse scheinen all das nicht einfacher gemacht zu haben. Vor Silvester wurde Polizei und Medien oft vorgeworfen, mit der Nennung der Herkunft von Tätern Rassismus zu schüren. Jetzt ist es plötzlich umgekehrt. Nun lautet der Vorwurf auf Vertuschung, Unterdrückung der Wahrheit – oder eben: „Lügenpresse“.
Eine einfache Lösung hat auch der Hamburger Geschäftsführer des Deutschen Journalistenverbandes, Stefan Endter, nicht. Natürlich gelte der Pressekodex. „Ich denke aber, der Fall, in dem 30 bis 40 ‚Südländer‘ in einem Bus eine Frau sexuell bedrängt haben, rechtfertigt nach den Ereignissen von Köln auch die entsprechende Beschreibung der Tatverdächtigen.“ Journalisten und Redaktionen müssten „in jedem Einzelfall in einem Abwägungsprozess neu entscheiden“, ob die Nationalität tatsächlich eine Rolle spiele, so Endter. Dass das einfach sei, könne wohl niemand behaupten.