Hamburg. Moderatorin Anja Reschke hat ein Buch zu dem Thema des Jahres herausgegeben. Ein Gespräch über Willkommenskultur, Hetze und „Lügenpresse“
Es war der 5. August 2015, als Anja Reschke den „Tagesthemen“-Kommentar „Hetze im Netz“ sprach – und darin sehr deutliche Worte gegen ausländerfeindliche Hetze im Internet fand. Nun hat die 43 Jahre alte Leiterin Innenpolitik beim NDR, die auch die Magazine „Panorama“ und „Zapp“ moderiert, ein Buch herausgegeben: In „Und das ist erst der Anfang ...“ (Rowohlt) berichten Journalisten und Integrationsforscher über Aspekte der Flüchtlingspolitik. Anja Reschke empfängt zum Interview in ihrem Büro im fünften Stock beim NDR in Lok-stedt. Es gibt Wasser und Weihnachtsplätzchen, Reschke redet in druckreifen Sätzen. Sie ist gut gelaunt, aber jederzeit bereit, die Augenbrauen streng hochzuziehen.
Hamburger Abendblatt: Frau Reschke, Sie gelten seit Ihrem legendären Kommentar als Expertin in der ARD für die Flüchtlingsthematik. Gefällt Ihnen diese Rolle?
Anja Reschke: Ich finde es seltsam, dass dieser Zusammenhang immer hergestellt wird, denn eigentlich ging es in meinem Kommentar ja nicht um die Flüchtlingsthematik, sondern um „Hetze“, um die Verrohung unserer Sprache. Ich habe mich gefragt, ob es jetzt wieder soweit ist, dass man Menschen, die zu uns flüchten, als „Dreck“ beschimpft. Aber in den vielen Zuschriften die ich bis heute bekomme, geht es fast immer um die Frage: „Frau Reschke, glauben Sie immer noch, dass wir unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen können?“ Das Flüchtlingsthema ist mehr zu mir gekommen, als dass ich mich zur Expertin auf diesem Gebiet ernannt habe. Aber ich fühle mich auch nicht fehl besetzt.
Flüchtlinge, Charlie Hebdo, die Anschläge von Paris – 2015 war politisch ein anstrengendes Jahr. Hat sich der politische Journalismus in diesem Jahr verändert?
Reschke: In Deutschland wurde in diesem Jahr politisch diskutiert und sich engagiert wie schon lange nicht mehr. Dieses Ringen um Werte, die Ausrichtung unserer Gesellschaft zieht sich durch alle sozialen Schichten, durch alle Branchen. Man kommt sofort mit jedem darüber ins Gespräch, in meinem Freundeskreis haben wir auch Abende lang diskutiert. Für eine lebhafte Demokratie ist das natürlich ein gutes Zeichen. Das gilt auch für den politischen Journalismus. In diesen Tagen ist ein hintergründiger Journalismus sehr gefragt. Die Zuschauer und Leser wollen wissen, wollen verstehen und sich beteiligen.
Die Rolle des Journalisten als neutralem Berichterstatter hat sich erledigt?
Reschke: Wir erleben gerade einen Umbruch im Journalismus. Nicht nur aufgrund der Flüchtlingsthematik, sondern auch, weil unsere Glaubwürdigkeit öffentlich hinterfragt wird. Ich sag nur Stichwort „Lügenpresse“. Wir Journalisten müssen für unsere Berichterstattung Vertrauen erwerben. Die Zeiten, in denen Journalisten den Leuten etwas vorgesetzt haben, was diese kommentarlos schlucken mussten, sind vorbei. Als Journalist musst du dir gefallen lassen, dass du hinterfragt wirst.
Sind die öffentlich-rechtlichen Sender in diesem Jahr politischer geworden?
Reschke:. Wir haben untereinander beim NDR in den letzten Monaten schon viel darüber diskutiert, ob unsere Berichterstattung über Flüchtlinge angemessen ist, oder ob wir das Bild, das wir nach außen transportieren, eventuell verändern müssen. Auch wie wir Flüchtlingen Zugang zu unserem Fernsehen verschaffen, beschäftigt uns. Es ist ja nicht so, dass politische Berichterstattung bei uns vorher keine Rolle gespielt hätte. Unser Fokus lag schon immer auf der Information. Aber zur Zeit ist alles sehr ernsthaft. Quote spielt da keine große Rolle, es geht mehr denn je um Inhalte.
Wird über das Thema Flüchtlinge in der Medienlandschaft umfassend berichtet, werden alle Aspekte berücksichtigt?
Reschke: So umfassend wie möglich. Mich würde schon interessieren, wie es ist, wenn du als Flüchtling in dieses Land kommst. Wenn du in einer Unterkunft mit hundert Menschen sitzt und dein Asylantrag wochenlang nicht bearbeitet wird. Aber wie es in den Flüchtlingsunterkünften zugeht, darüber können wir nur vom Hörensagen berichten. Wir dürfen dort mit Kameras nicht hinein. Das ist von Bundesland zu Bundesland verschieden, Hamburg ist in dieser Hinsicht sehr restriktiv. Ähnlich ist es mit der Berichterstattung aus Syrien. Wir können da keine eigenen Reporter hinschicken, wir müssen mit Informationen aus zweiter Hand leben.
Es wird hin und wieder der Vorwurf laut, die Presse würde nicht ausgewogen berichten – wie sehen Sie das?
Reschke: Es gab häufig den Vorwurf, in unserer Berichterstattung gäbe es zu viel Willkommenskultur. Als im Sommer erstmals sichtbar wurde, dass so viele Menschen zu uns kommen werden, lag der Fokus der Journalisten stark auf den Hilfsleistungen und dem Engagement der Ehrenamtlichen. Aber in den letzten Wochen wird viel darüber diskutiert, wie Integration funktionieren kann. Es wird auch über die Probleme berichtet, die sich zum Beispiel auftun, wenn Menschen wochenlang in Flüchtlingsunterkünften aufeinander hocken.
Es gibt eine Fotostrecke in dem Buch von dem Fotografen Martin Lilkendey, die zahlreiche Flüchtlinge abbildet ...
Reschke: Bilder haben in der Darstellung eines Themas eine große Macht. Man sieht ja immer eine Masse an Flüchtlingen, zum Beispiel an den Grenzen. Im Text heißt es oft: Heute wieder 500, gestern 1000, also immer Zahlen. Aber darin verschwindet der einzelne Mensch natürlich komplett. Für „Panorama“ hatten wir einen Anwalt aus Syrien bei seiner Flucht begleitet. Er hat immer wieder erzählt, wie merkwürdig es ist, als Mensch mit eigenem Leben einfach zu einer Zahl zu verkommen. Im Buch haben wir uns auch bewusst für Fotos entschieden, in denen die Flüchtlinge als starke Persönlichkeiten dargestellt sind. Sonst sehen wir Flüchtlinge ja meist in Notsituationen. Die Fotos im Buch zeigen Individuen mit eigenen Schicksalen.
Sie zitieren im Vorwort des Buches eine Erkenntnis aus der Shell-Jugendstudie. Demnach steht die Jugend dem Thema Zuwanderung gelassen gegenüber. Deckt sich das mit Ihrer eigenen Erfahrung?
Reschke: Mein Eindruck ist, dass vor allem die mittelalte Generation große Verlustängste hat. Ältere Frauen schreiben mir häufig Briefe und berichten von ihrer eigenen Flucht. Darin steht: „Glauben Sie, dass ich damals mit offenen Armen empfangen wurde?“ Die Jugend ist tendenziell eher zuversichtlich. Die Jugend hat großes Interesse daran, ihre Zukunft mitzugestalten.
„Und das ist erst der Anfang“, Rowohlt, 336
Seiten, 12,99 Euro. Für jedes verkaufte Exemplar spendet der Verlag einen Euro an die Flüchtlingshilfe.