Die Unruhen in Großbritannien sind Symptome eines gefährlichen Reformstaus.
Kurz nach einer glanzvollen Hochzeit im britischen Königshaus, inmitten einer schweren Wirtschaftskrise, brechen in London wüste Straßenschlachten zwischen einer überforderten Polizei und Randalierern aus zumeist unterprivilegierten Schichten aus. Das war übrigens 1981.
Der gegenwärtige Aufruhr in Großbritannien ist für die fassungslosen Briten ein bitteres Déjà-vu-Erlebnis. Und niemand - vom Premierminister, der gerade noch entspannt in der Toskana urlaubte, bis zur Polizei, deren Einheiten teilweise erst im Umland zusammengetrommelt und stundenlang ausgerüstet werden mussten - hatte mit dem Ausbruch einer solchen Gewaltwelle gerechnet.
Es gibt einige kuriose Parallelen zum Beginn des "Arabischen Frühlings" in Tunesien - Verzweiflung über soziale Perspektivlosigkeit spielt in London ebenso eine zentrale Rolle wie die taktisch raffinierte Organisation der Proteste über elektronische Medien. Ohne Frage gab es eklatante Fehler der Polizei. Abgesehen von ruppiger, eskalationsfördernder Taktik wurde die Familie des unter ungeklärten Umständen erschossenen Mark Duggan - offenbar ein notorischer Bandenkrimineller - mit schwer erträglicher Kaltschnäuzigkeit behandelt. Was die Wut auf den Straßen in der Folge gefährlich steigerte.
Die gescheiterte Integration mancher Migranten mag im Inselreich - wie auch bei den Aufständen in den französischen Vorstädten - ebenfalls eine Rolle spielen. Doch der "Britische Sommer" berührt ein Kernproblem moderner Gesellschaften. In der globalisierten Welt wachsen die Ansprüche an die Bildungsfähigkeit, an Arbeitsleistung und Flexibilität der Menschen in beängstigender Geschwindigkeit. Zunehmend leiden "Leistungsträger" unter Burn-out-Symptomen. Aber was passiert mit jenen, die sich diesem kraftzehrenden Prozess verweigern, die nicht mithalten können oder wollen? Deren soziale Ausgangslage kaum glanzvolle Karrieren begünstigt? Unsere Gesellschaften zerreißen - in puncto Einkommen, Vermögen, Lebensperspektiven und nicht zuletzt Bildung. Ein zu großer Teil der Menschen wird über Transferleistungen mitgeschleppt wie ein leerer Waggon und bleibt wirkungslos. Dies zehrt Gesellschaften finanziell wie soziokulturell aus.
Auch in Deutschland gibt es diese bedenkliche Entwicklung. Doch unser Land war nach dem vernichtenden Zweiten Weltkrieg immerhin zu einem umfassenden Neuaufbau gezwungen - nicht nur in baulicher, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Großbritannien hat diesen Bruch nie vollziehen müssen. Seine Gesellschaft spiegelt in manchen Aspekten noch die Strukturen des Empires wider und ist viel stärker von sozialer Ungleichheit, Standesdünkel und einem latenten Rassismus geprägt. Zudem hat Deutschland seine wirtschaftlichen Hausaufgaben schon vor Jahren gemacht und wird von der anhaltenden Krise weniger hart getroffen.
Ein Teil der jungen Briten - "die Messerstecher, Plünderer und ihre Mitläufer" - sei über die Abbruchkante einer zerbröckelnden Nation gefallen, grauste sich der "Daily Telegraph". Ohne eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung wird Großbritannien dieses Problem nicht lösen können. Zudem kann sich kein Land auf Dauer eine "verlorene Generation" leisten - sie muss wiedergewonnen werden. Doch Großbritannien kann und darf es sich auch nicht leisten, Verwüstungen mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen hinzunehmen. Auch soziale Frustration rechtfertigt weder Brandstiftung noch Mordanschläge. Die Vorgänge in London sind ein Anschlag auf die Ordnung einer Demokratie. Das Gebot der Stunde lautet, zunächst die Gewaltkriminalität auf den Straßen wirkungsvoll zu unterbinden und Straftäter einer Verurteilung zuzuführen. Aber dann zügig die Ursachen aufzuarbeiten.