Premier David Cameron lässt jetzt Wasserwerfer bereitstellen. Die Kritik an der Einsatztaktik von Scotland Yard wird immer lauter.

London. Nach mehreren Nächten der Gewalt in Großbritannien verschärfen Regierung und Polizei des Königreichs ihren Kampf gegen die Randalierer. „Wir werden alles Notwendige tun, um Recht und Ordnung auf unseren Straßen wieder herzustellen“, kündigte Premierminister David Cameron am Mittwoch nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts in London an. In der Nacht davor hatte es erneut schwere Krawalle und drei Tote gegeben.

Erstmals könnten in Großbritannien auch außerhalb Nordirlands Wasserwerfer eingesetzt werden. In der Nacht zum Mittwoch war es in London verhältnismäßig ruhiggeblieben. Dafür hatte sich die Gewalt in anderen Städten fortgesetzt. Insgesamt wurden seit Samstag in Großbritannien 1100 Verdächtige festgenommen, von denen bislang mehr als 160 wegen verschiedener Delikte angeklagt wurden.

In Birmingham starben drei Einwanderer, nachdem sie von einem Auto überfahren worden waren. Die Männer im Alter von 21, 30 und 31 Jahren gehörten nach Schilderungen von Augenzeugen zu einer Gruppe, die Geschäfte ihrer Wohngegend vor Plünderern schützen wollte. Ein Auto habe sie mit hoher Geschwindigkeit und offenbar absichtlich auf einem Bürgersteig überfahren. Die Polizei erklärte, sie ermittle wegen Mordes gegen einen 32-Jährigen; zu dessen Identität lagen zunächst keine Angaben vor. Außerdem sei ein Fahrzeug beschlagnahmt worden.

Beobachter befürchten nun mögliche Racheaktionen in der zweitgrößten britischen Stadt, die für ihre rivalisierenden Gruppen von Jugendlichen verschiedener Herkunft bekannt ist. Sozialarbeiter und Sprecher von Gemeinschaften appellierten an die Bevölkerung, das Gesetz nicht selbst in die Hand zu nehmen.

Neben Birmingham war das nordenglische Manchester ein Schwerpunkt der Krawalle in der Nacht gewesen. Hier lieferten sich Hunderte Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei. Einer der Polizeichefs sagte, die kriminellen Gruppen hätten einen „außergewöhnlichen Grad der Gewaltbereitschaft“ gezeigt. Vereinzelt kam es erneut zu Brandstiftungen. In Nottingham wurde eine Polizeiwache mit Brandsätzen angegriffen. In Liverpool wurden Löschzüge der Feuerwehr attackiert.

Mit der Ankündigung zum möglichen Einsatz von Wasserwerfern weicht Cameron von der bisherigen Linie der Regierung ab. „In Großbritannien halten wir niemanden mit Wasserwerfern zurück“, hatte Innenministerin Theresa May noch am Dienstag erklärt. Stattdessen setze sie auf die Mitarbeit der Menschen vor Ort – so funktioniere britische Polizeiarbeit.

Es gab auch andere Warnungen vor dem Einsatz der Wasserwerfer. „Das geht überhaupt nicht, da gibt es viele Probleme, einschließlich der Größe dieser Wagen“, sagte Jimmy Spratt, ein ehemaliger Chef der mit Wasserwerfern vertrauten Polizei in Nordirland. Die relativ kleinen Banden, die London und andere Städte unsicher machten, könnten mit den schwerfälligen Fahrzeugen kaum in Schach gehalten werden.

Das Sicherheitskabinett und das gesamte Kabinett werden am Donnerstag erneut tagen. Außerdem tritt das Parlament zusammen, das eigentlich Ferien hat. Dabei wird eine ausführliche Debatte auch zu den Hintergründen der Unruhen erwartet.

In London blieb es nach drei aufeinanderfolgenden Nächten der Gewalt weitgehend ruhig. In manchen Gegenden waren kaum Passanten auf der Straße. Nach einer Aufstockung der Polizei um 10 000 Beamte patrouillierten fast überall Sicherheitskräfte. Aus Angst vor erneuter Randale hatten viele Geschäfte schon am Nachmittag geschlossen und viele Firmen ihre Mitarbeiter früher nach Hause geschickt. Besonders viel zu tun hatten dafür die Haftrichter. In zwei Gerichtssälen wurde die Nacht durch verhandelt.

Cameron verwies bei der Erklärung der Vorfälle auf den fehlenden Wertekanon in Teilen der Gesellschaft. „Es ist klar, dass wir in unserem Land ein Gang-Problem haben.“ In einer Gesellschaft laufe etwas falsch, wenn 12- oder 13-Jährige lachend Geschäfte plünderten, erklärte der Regierungschef. Teile der Gesellschaft hätten wohl das Gefühl, „dass ihre Rechte ihre Verantwortung überwiegen und ihre Handlungen keine Konsequenzen hätten“.

Die Krawalle waren am Samstag im nördlichen Londoner Stadtteil Tottenham ausgebrochen und hatten sich in den vergangenen Tagen immer weiter ausgebreitet. Auslöser war der Tod eines 29 Jahre alten dunkelhäutigen Familienvaters, der von der Polizei erschossen worden war. Ballistische Untersuchungen ergaben, dass der Mann selbst nicht auf die Polizisten geschossen hatte. Das hatte Scotland Yard zuvor behauptet.

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Erste prominente Opfer

Die Krawalle in England haben auch zwei Prominente getroffen: Erster Leidtragender war Starkoch Jamie Oliver, dessen Restaurant in Birmingham ins Visier der Randalierer geriet. Sie hätten alle Fenster eingeschmissen, twitterte der Starkoch, der sich immer wieder auch für soziale Projekte einsetzt. Jamie schrieb sich gleich seinen Frust von der Seele. „Alle sind verrückt geworden. Es ist an der Zeit, das Land zurückzuerobern. Wir müssen hart gegen diese Idioten vorgehen.“ In Manchester traf es Ex-Oasis-Frontmann Liam Gallagher, berichtete die britische Nachrichtenagentur PA. Dort plünderten die Randalierer demnach in der Nacht zum Mittwoch eine Boutique des Modelabels „Pretty Green“ – ein Projekt des Sängers.

Das Möbelhaus der Familie Reeves an der London Road hat Krisen und Kriege überlebt. Aber nicht die Krawalle und Plünderungen der letzten Nächte. Im südlichen Stadtbezirk Croydon, wo das „House of Reeves“ 144 Jahre lang Betten, Tische, Sessel und Schränke feilbot, rauchten am Mittwoch noch die Ruinen eines ganzen Häuserblocks. „Szenen wie im Blitz“, schrieb der „Evening Standard“. „Blitz“ nennen Briten die Bombardierung Londons durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg.

„Das bricht einem das Herz“, sagt Geschäftsmann Trevor Reeves (56). „Ich weiß nicht, ob wir uns von diesem Schlag je wieder erholen.“ Doch wie konnte es soweit kommen? Wieso konnten aufgeputschte Jugendliche, gnadenlose Gangs und Plünderer erst in London und dann auch Birmingham und Manchester, Liverpool, Nottingham und Bristol anscheinend ungestört Orgien der Gewalt und Zerstörung entfachen? Was ist los mit unserer Polizei? Fassungslos fragen sich das viele Briten auch am Tag fünf seit dem Ausbruch der Gewalt.

Manche antworten mit typisch englischem Sarkasmus. „Scotland Yard?“, sagt ein grauhaariger Mann im dunklen Anzug, der am Morgen in der U-Bahn Richtung Bankenviertel fährt: „Die sind vermutlich immer noch damit beschäftigt, Jack the Ripper zu fassen.“ Das Lachen der Umstehenden ist verhalten. „Jetzt wird aber zurückgeschossen“, sagt eine Frau und deutet auf ihre Zeitung: „Polizei: Wir werden Feuer mit Feuer bekämpfen“, lautet die Schlagzeile des „Independent“, und darunter „Befehl zum Einsatz von Gummigeschossen“.

Die Führung von Scotland Yard, der weltberühmten Londoner Polizei, soll ihren Einsatzkräften anfangs strikt verboten haben, mit Gewalt gegen Randalierer und Plünderer vorzugehen. Der Befehl aus der Zentrale der „Metropolitan Police“ sei eindeutig gewesen, berichteten hohe Offiziere der „Times“ – „stand and observe“ habe die Order gelautet, Stillstehen und Beobachten.

Innenministerin Theresa May fand das in Ordnung – zumindest bis in der Nacht zum Mittwoch am Rande der Krawalle in Birmingham drei junge Asiaten einfach totgefahren wurden, die laut Augenzeugen ihren Wohnblock vor Randalierern schützen wollten. „Die polizeiliche Kontrolle stellen wir nicht mit dem Wasserwerfer her“, erklärte May am Dienstag, „sondern durch Verständigung zwischen den verschiedenen Gemeinden.“

Geholfen hat die Taktik der „Deeskalation“ kaum. „Im Gegenteil, die Polizei hätte rascher und robuster einschreiten müssen“, sagt Sicherheitsexperte Peter Power im Morgenmagazin der BBC. Rund um die Uhr wurden Bilder und Berichte im Fernsehen und im Internet, auf YouTube, Facebook und Twitter verbreitet: Randalierer zünden Autos und Geschäfte an, Plünderer schleppen weg, was nicht niet- und nagelfest ist – anscheinend kaum gestört durch die Polizei. „Da war doch klar, dass auch unsere Straßenterroristen nach Londoner Vorbild zuschlagen“, klagt Darsi Chouwadry, ein Ladenbesitzer in Birmingham.

Als einen Grund für anfängliche Zurückhaltung bei Scotland Yard deutet die „Times“ Furcht vor einem weiteren Ansehensverlust an. Schließlich seien die Krawalle dadurch ausgelöst worden, dass ein junger Londoner bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde. Und das kurz vor einem Verfahren gegen einen Polizeibeamten, der 2009 bei einer Demonstration gegen den Londoner G20-Gipfel einen Mann zu Tode geprügelt haben soll.

Angeschlagen ist die Reputation von Scotland Yard allerdings auch durch die Abhör- und Bestechungsaffäre um den Medienmogul Rupert Murdoch. Erst vor einem Monat sah sich Polizeichef Sir Paul Stephenson zum Rücktritt gezwungen, als bekannt wurde, dass er sich ausgerechnet von einem mit einem Murdoch-Journalisten verbundenen Unternehmen einen Kur-Aufenthalt schenken ließ. Zudem sollen Beamte Murdoch-Reportern gegen Bares Interna geliefert haben.

Inzwischen stellt sich die Polizei nach den Worten von Premierminister David Cameron zwar auf ein härteres Durchgreifen ein – notfalls auch mit Wasserwerfern. Dass sie helfen könnten, Londons schwer angeschlagenes Image als Olympia-Stadt wiederherzustellen, glaubt kaum jemand. England zeige sich leider „von seiner hässlichsten Seite“, klagte Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe auf Twitter. „In weniger als einem Jahr begrüßen wir die Welt in London, doch derzeit möchte die Welt lieber nicht kommen.“

Auch Starkoch Jamie Oliver, dessen Edelrestaurant in Birmingham Gewalttäter ramponierten, ist „zutiefst traurig“: „Wir müssen hart gegen diese Idioten vorgehen“, twitterte er. „Es ist Zeit, dass wir unser Land zurückerobern.“ (dpa/abendblatt.de)