Nach drei Nächten kriegsähnlicher Szenen in London kündigt Premierminister David Cameron ein Polizeiaufgebot von 16 000 Beamten an
London. Dilshini Mendis hat in der Nacht zum Dienstag kaum ein Auge zugetan. Gemeinsam mit ihren Eltern verbarrikadierte sie sich in ihrer Wohnung in London-Ealing. "Wir hatten Angst, dass sie zurückkommen", sagt die 27-jährige Singhalesin, die seit fünf Jahren in Ealing lebt. Normalerweise ist Ealing ein beschaulicher Bezirk am westlichen Rand der britischen Hauptstadt. Die Häuser sind gepflegt, es gibt viele Grünflächen und wenig Aufregung. Die Leute sind bürgerlich, weder besonders reich noch besonders arm. Sie gehen ihrem geregelten Leben nach.
Nicht in der Nacht zum Dienstag. Mendis hatte früh ihr Büro im Londoner Osten verlassen, weil es dort schon ab dem Nachmittag zu Ausschreitungen gekommen war. "Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause und dachte natürlich, in Ealing werde ich außer Gefahr sein." Als sie gegen 19.30 Uhr in der Wohnung ihrer Eltern eintrifft, sieht die Familie im Fernsehen, dass auch ihr friedliches Ealing nicht mehr sicher ist. "Es war unglaublich. In der Hauptstraße, nur wenige Minuten von uns entfernt, schlugen vermummte Jugendliche Scheiben ein, warfen Steine, räumten die Läden leer, fackelten Autos ab", sagt Mendis. Als sie nach ihrem eigenen Auto vor dem Haus schauen, merken sie, dass es schon zu spät ist. Der Mob war bereits durch ihre ruhige Wohnstraße gezogen. Den VW Beetle der Familie Mendis hatten die Randalierer komplett zerschlagen, ebenso wie fast alle anderen Autos und viele Fensterscheiben der Häuser. "Die Leute standen auf den Straßen und weinten. Wieso tun Menschen so etwas?"
Diese Frage stellen sich die meisten Londoner. In der dritten Nacht in Folge kam es in der britischen Hauptstadt in der Nacht zu Dienstag zu schweren Ausschreitungen, die sich über die ganze Stadt verteilten. Obwohl 6000 Polizisten im Einsatz waren, konnten die Beamten der Krawalle nicht Herr werden. Weil vor ihren Häusern Anarchie herrschte, verbarrikadierten sich viele Londoner in ihren Häusern. Aus acht Stadtvierteln in allen Teilen der Stadt gab es Berichte über Gewalt, Brände und Plünderungen: von Ealing im Westen bis Hackney im Osten, von Croydon im Süden bis Camden im Norden. Britische Versicherer rechneten mit Schäden von mehreren Dutzend Millionen Pfund. Die Krawalle waren am Sonnabend ausgebrochen, als ein zunächst friedlicher Protest in Tottenham gegen die Erschießung des 29 Jahre alten Mark Duggan durch die Polizei in Gewalt umschlug. Gestern kam heraus: Duggan hatte zuvor nicht auf die Polizei geschossen. Dafür seien bei einer Untersuchung am Tatort keine Beweise gefunden worden, teilte Scotland Yard mit. Die Behörde hatte die Situation zunächst so dargestellt, dass der Polizeischütze in Notwehr gehandelt habe.
Am Montagabend schienen die randalierenden Jugendlichen mit der Polizei Katz und Maus zu spielen. Sobald die Beamten in einem Stadtteil ankamen, zog der Mob zu einem anderen Ort weiter. Wenn die Beamten vor Ort eintrafen, war es meistens schon zu spät. Häuser brannten, Geschäfte waren bis aufs hinterste Regal ausgeräumt. Wegen der chaotischen Situation auf den Straßen hatte auch die Feuerwehr Probleme, zu den Bränden zu gelangen. Ein BBC-Helikopter filmte aus der Luft, wie gegen 21 Uhr ein Möbelgeschäft in Croydon Feuer fing. Vor den Augen von Millionen Fernsehzuschauern brannte das Gebäude ab. Eine Frau konnte sich nur durch einen Sprung aus ihrem Fenster vor dem Feuertod retten.
Londons Polizeichef Tim Godwin forderte die Bevölkerung auf, die Straßen zu verlassen. Eltern sollten sich nach ihren Kindern erkundigen und sie nach Hause holen. "Es sind viel zu viele Schaulustige auf den Straßen", sagte er. Premierminister David Cameron, der seinen Urlaub in der Toskana abgebrochen hatte, kündigte an, die Polizeikräfte nochmals deutlich auf 16 000 aufzustocken. Nach einer Sondersitzung des Sicherheitskabinetts versprach er: "Wir werden alles tun, um die Ordnung wieder herzustellen." Es handele sich bei den Krawallen um "pure Kriminalität". Bisher seien 450 Randalierer festgenommen worden. Cameron drohte eine harte Bestrafung. "Ihr werdet die Kraft des Gesetzes spüren." Wer alt genug sei, Straftaten zu begehen, sei auch alt genug, bestraft zu werden.
Die Angst geht auch im Rest des Landes um. Am Montagabend griffen die Ausschreitungen auf andere Städte über. In Birmingham, Bristol, Liverpool und Manchester kam es zu Krawallen und Plünderungen. Am schlimmsten traf es aber die britische Hauptstadt, in der sich die Gewalt am Montag erstmals gegen Passanten richtete. In Südlondon wurde ein Mann von seinem Motorrad gerissen. Etwa ein Dutzend Randalierer schlugen auf den Mann ein und klauten sein Motorrad. In Peckham wartete eine Frau in ihrem Auto an einer Ampel, als Vermummte ihre Tür aufrissen, sie aus dem Wagen drängten und davonfuhren. Gegen zwei Uhr nachts kaperten 15 Jugendliche einen Doppeldeckerbus in Ealing und fuhren ihn wenig später zu Schrott. Der Busfahrer kam mit einem Schock davon.
Noch weitgehend ungeklärt sind die Todesumstände eines 26-jährigen Mannes, der in seinem Auto im Stadtteil Croydon angeschossen wurde. Er starb einige Stunden später im Krankenhaus. Ob er selber zu den Randalierern gehörte oder nur ein Passant war, dazu konnte die Polizei zunächst nichts sagen.
Fassungslosigkeit herrscht in London vor allem darüber, wie weitgehend ungestört die Jugendgruppen durch die Stadt ziehen konnten. Anders als in den ersten zwei Nächten beschränkten sich die Krawalle nicht mehr nur auf sozial schwache Bezirke, sondern betrafen auch gutbürgerliche Wohnviertel, die bislang als sehr sicher galten. Viele Teile Londons wirkten wie ein rechtsfreier Raum, in denen sich jeder einfach nehmen konnte, was er wollte. Möglich war das offenbar, weil die Krawallmacher über die Kommunikationsplattform Blackberry Messenger (BBM) Informationen austauschten. Das Smartphone Blackberry ist bei Londoner Jugendlichen wegen dieses kostenlosen SMS-Dienstes sehr beliebt. Mehr als jeder dritte britische Jugendliche hat ein Blackberry. Im Gegensatz zu Onlineplattformen wie Twitter müssen sich die BBM-Nutzer gegenseitig als Kontakte bestätigen. Die Polizei konnte deswegen nicht mitlesen, wo der Mob als Nächstes hinzog.
Cormac Breen wird gegen 21 Uhr am Montagabend von Geschrei und klirrenden Scheiben aufgeschreckt. Der 48-jährige Programmierer lebt in der Haupteinkaufsstraße des Südlondoner Stadtteils Clapham, der am besten mit dem Berliner Prenzlauer Berg zu vergleichen ist. Als Breen auf die Straße tritt, erkennt er die Gegend nicht wieder. "Hunderte von Jugendlichen, oft nicht älter als 13 oder 14 Jahre, räumten in aller Seelenruhe die Elektrogeschäfte aus." Viele hätten sich nicht mal die Mühe gemacht, ihr Gesicht zu verhüllen. "Die hatten sichtlich Spaß dabei, lachten und scherzten." Von der Polizei ist dagegen nichts zu sehen. Etwa 200 verzweifelte Passanten beobachten die Szene aus einigen Metern Entfernung. Einige überlegen, auf eigene Faust einzugreifen. Stattdessen bildeten die 200 Anwohner eine dichte Menschenkette, um die Randalierer nicht weiterkommen zu lassen.
Als die Polizei schließlich nach knapp zwei Stunden eintrifft, empfangen Breen und seine Nachbarn die Beamten mit Applaus. Er habe keinen Groll gegen die Polizisten. "Ich bin sicher, sie kamen, so schnell sie konnten."