Die getöteten Männer wollten laut BBC einen Wohnblock vor Randalierern schützen. Englische Rechtsradikale schicken Bürgerwehr auf die Straßen.
Berlin/London. Die Lage in Großbritannien verschlimmert sich von Tag zu Tag. Am Rande der schweren Ausschreitungen in Birmingham sind drei Männer mit einem Auto totgefahren worden. Der Vorfall habe sich in der Nacht zum Mittwoch an einer Tankstelle in der Innenstadt ereignet, teilte die Polizei mit. Alle drei Männer seien noch in der Nacht im Krankenhaus an ihren schweren Verletzungen gestorben. Wenig später seien in der Nähe ein Auto sichergestellt und ein Mann festgenommen worden. Die Polizei leitete Ermittlungen wegen Mordes ein. Weitere Details wurden zunächst nicht veröffentlicht. Bisher ist nicht klar, ob der Vorfall direkt mit den Krawallen in der Stadt zu tun hat. Die BBC berichtete unter Berufung auf Augenzeugen, die Männer hätten ihren Wohnblock vor den Randalierern schützen wollen. Sanitäter erzählten, es seien rund 80 Personen an der Tankstelle gewesen, als sie ankamen.
Birmingham war einer der Schwerpunkte der Krawalle der vergangenen Nacht. In der vierten Nacht mit Straßenschlachten und brennenden Häusern in Großbritannien verlagerten sich die Ausschreitungen in Städte wie Manchester, Liverpool und Birmingham, während es in der Hauptstadt London weitgehend ruhig blieb. Erneut wurden Hunderte Jugendliche in Gewahrsam genommen.
In London sorgten 16.000 Polizisten für eine fast gespenstische Ruhe. In Manchester setzten Randalierer ein Bekleidungsgeschäft in Brand und griffen mehrere weitere Läden an. An den Krawallen im Zentrum der nordwestenglischen Stadt beteiligten sich mehrere Hundert Menschen, wie die Polizei mitteilte. Rund 50 Personen wurden festgenommen. In Nottingham warfen Randalierer mit Brandsätzen, setzten eine Schule sowie ein Fahrzeug vor einer Polizeiwache in Brand, berichteten die Sicherheitskräfte. 90 Personen wurden festgenommen, Zudem gab es erstmals kleinere Zusammenstöße in Leicester, Wolverhampton und West Bromwich.
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Verlorene Generation
In London hatten viele Geschäfte und Büros aus Sorge vor neuen Unruhen vorzeitig geschlossen. Auch Cafés, Restaurants und Pubs hatten sich dafür entschieden, die Nacht über zu schließen. In vielen normalerweise belebten Straßen herrschte Stille. Einige Bewohner der Hauptstadt hatten sich darauf vorbereitet, ihre Häuser und Geschäfte zu schützen. In Tottenham bekämpfte die Feuerwehr einen Großbrand im Bereich eines Recyclingzentrums und Treibstofflagers, wobei nicht klar war, ob das Feuer etwas mit den Unruhen zu tun hatte.
Der Chef der rechtsgerichteten English Defense League (EDL) kündigte an, die Gruppe wolle Mitglieder auf die Straßen schicken, um die Unruhen in mehreren britischen Städten zu ersticken. So sei geplant, dass in Luton – dem Sitz der Gruppe – aber auch in Manchester und anderen Orten bis zu 1000 Mitglieder ausrücken sollten, sagte EDL-Anführer Stephen Lennon der Nachrichtenagentur AP. Lennon sagte, er könne nicht garantieren, dass es keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mit randalierenden Jugendlichen geben werde.
Einige Mitglieder würden bereits Patrouillen laufen, um Randalierer abzuschrecken, sagte Lennon. Hunderte weitere würden ihnen am Mittwoch folgen. „Wir werden die Unruhen stoppen, die Polizei ist dazu offensichtlich nicht in der Lage“, sagte er. Die EDL war von dem geständigen norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik in seinem Manifest als inspirierend beschrieben worden. Breivik hatte im vergangenen Monat bei zwei Anschlägen 77 Menschen getötet.
In London sind die Gefängnisse mittlerweile überfüllt, wurden doch allein in der Hauptstadt bisher 685 Menschen festgenommen. Gegen mehr als 100 mutmaßliche Randalierer in London wurde Anklage erhoben. Unter den Beschuldigten ist auch ein elfjähriges Kind.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht derzeit keine Anzeichen dafür, dass es in deutschen Großstädten zu Jugendkrawallen wie in England kommen kann. Die soziale Integration in Deutschland sei in den vergangenen Jahren sehr gut vorangekommen, sagte er der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. „Solche gesellschaftlichen Spannungen wie aktuell in England oder in anderen europäischen Ländern haben wir glücklicherweise derzeit nicht“, sagte Friedrich.
Deutschland habe den Konsens erreicht, dass Gewalt gegen unbeteiligte Personen kein Mittel sei, mit dem man seine politischen oder sonstigen Ansichten durchsetze. „Diesen Konsens aufrechtzuerhalten und auf die Jugendlichen zu übertragen, bleibt die Erziehungsaufgabe unserer Gesellschaft, von allen Lehrern, Eltern und Vereinen“, unterstrich er.
Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, sagte der „Bild“-Zeitung, in der Bundesrepublik gebe es eine ähnlich explosive Mischung wie in Großbritannien. „Die Ausschreitungen sind das Ergebnis von krimineller Energie, Verachtung gegenüber dem Staat und sozialer Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsschichten“, sagte er. Insbesondere in Großstädten wie Hamburg und Berlin könnten aus nichtigen Anlässen rasch Brennpunkte entstehen, die nur schwer in den Griff zu bekommen seien. Als Beispiel verwies er auf die Krawalle rund um den 1. Mai. Er forderte mehr Personal und bessere Technik, um soziale Netzwerke und andere Kommunikationsmittel von Randalierern besser überwachen zu können.
Der Jugendforscher Albert Scherr sieht in den gewalttätigen Krawallen der britischen Jugendlichen eine Folge sozialer Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. In Deutschland sei ein solches Szenario nicht zu befürchten, sagte der Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im MDR-Fernsehen.
In Deutschland gebe es im Unterschied zu England und Frankreich noch starke sozialstaatliche Strukturen, sagte Scherr. Deshalb entstünden „keine Situationen der Gettoisierung und keine Situationen, in denen eine große Zahl von jungen Menschen das Gefühl von Randständigkeit und Perspektivlosigkeit hat“, sagte der Jugendforscher.
Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) sieht Berlin für den Fall von Ausschreitungen ähnlich wie in London gut gerüstet. „Wir hoffen, dass wir nicht in solch eine Situation kommen“, sagte Körting der „Rheinischen Post“. „Sollten jedoch in Berlin ähnliche Krawalle wie in englischen Städten auftreten, könnten wir in kürzester Zeit durch Unterstützung der Bereitschaftspolizeien der anderen Bundesländer und des Bundes eine hohe Polizeidichte erlangen“. (dpa/dapd/abendblatt.de)