Hamburg. Das NDR Vokalensemble eröffnet seine Saison mit einem exquisiten Programm. Warum manchen im Publikum das Zuhören trotzdem schwerfiel.

Das NDR Vokalensemble lädt zur „Schubertiade“ in die Elbphilharmonie, es ist ein Sonntagabend, und der Große Saal ist deutlich unausverkauft. Seltsames Phänomen: Chöre haben Zulauf, Chorkonzerte oft nicht. Wenn Menschen nur mit ihrem Körper Musik erzeugen, dann gibt es halt nicht so viel zu sehen wie bei einem Orchesterkonzert. Von wegen goldglänzendes Blech, Harfe oder Schlagwerk.

Elbphilharmonie Hamburg: Warum es manchen schwerfällt, dem NDR Vokalensemble zuzuhören

Dabei ist es doch gerade das, was Chormusik ausmacht. Nichts berührt uns so unmittelbar wie der Klang der menschlichen Stimme. Wenn wir uns darauf einlassen. Leider hat unspektakuläres Zuhören zurzeit nicht Konjunktur. An diesem Abend, an dem genau das dran ist, sitzt schräg hinter der Rezensentin ein Besucher, der sich damit merklich unbehaglich fühlt. Ständig raschelt er mit seinem Programmheft und rutscht auf seinem Sitz herum. Er ist vermutlich nicht der einzige.  

Am Programm liegts nicht. „Schubertiade“ ist eine beliebte Überschrift für ziemlich vieles, wo Schubert drin ist. Das Format gab es tatsächlich schon zu Lebzeiten des Komponisten: Man traf sich in privatem Kreis und hörte dem so schüchternen wie verehrten Künstler zu, wie er seine neuen Werke vortrug. Die „Schubertiaden“ waren also eher ein Forum für Kammermusik. Aber wer sagt denn, dass ein Vokalwerk nicht auch für die Kammer taugt?

Klang wirkt so räumlich, als hätte sich das NDR Vokalensemble im Saal der Elbphilharmonie verteilt

Der Chefdirigent Klaas Stok hat für das erste Abonnementkonzert der Saison den Fokus eng gestellt. So erreicht man Tiefe, entdeckt den Reichtum im scheinbar Kleinen. Schubert und Gesang, das ist eben weit mehr als die blockbustertauglichen Liedzyklen „Winterreise“ und „Die schöne Müllerin“. Noch als Teenager begann er für Chöre zu schreiben. Ach was, für Chöre, für Stimmen schrieb er, in den unterschiedlichsten Zusammensetzungen.

„Gott im Ungewitter“, ganz bürgerlich für gemischten Chor und Klavier, entfacht gleich in den ersten Takten so viel Drama, dass man kaum hinterherkommt mit dem Hören und Fühlen. Julius Drake hämmert gezackte Akkorde und Oktavgänge in die Tastatur, und der Chorsatz fächert sich auf in vielstimmiges Entsetzen. So räumlich wirkt der Klang, als hätten sie sich im Saal verteilt. Die Textdeklamation ist exzellent. Es ist eine Erfahrung für sich, Schuberts Melodik und beiläufige Verzierungskunst, die in der Hörerwartung so sehr an den individuellen Stimmklang gekoppelt sind, durch den Klang einer Gruppe gleichsam objektiviert und wie unter der Lupe zu erleben.

Klaas Stok ist seit der Saison 2018/19 Chefdirigent des NDR Vokalensembles.
Klaas Stok ist seit der Saison 2018/19 Chefdirigent des NDR Vokalensembles. © HANS VAN DER WOERD

Ob Männerchor oder Frauenchor, ob mit Solisten – sie kommen, wie es schon beim seligen NDR Chor schöne Tradition war, aus den Reihen des Ensembles – oder ohne, ob mit dem subtilen Drake am Klavier oder dem aus tiefen Streichern zusammengesetzten Instrumentalensemble im „Gesang der Geister über den Wassern“, eines eint dieses Repertoire: Es ist intim im Charakter und frei von vordergründigen Effekten. Wie sie es schaffen, die Musik trotz des oft begrenzten Tonumfangs und ähnlicher Klangfarben lebendig zu gestalten, das ist höchste Kunst.

In säuerlich-modernistischem Ton macht sich Schönberg über die eigene Zunft lustig

Als geistreichen Kontrast haben sie Werke vom Jubilar Arnold Schönberg (geboren 1874) eingestreut. Dessen schöpferische Neugier und scharfe Feder machten bekanntlich vor nichts halt. Wer hätte gedacht, dass er sich für „Drei deutsche Volkslieder“ interessiert hat? Hat er aber – und die Weisen in eine Vielstimmigkeit zergliedert und quer durch den Quintenzirkel gejagt, dass einem schwindlig werden könnte. Um dann in „Schein uns, du liebe Sonne“ eine Atmosphäre von innerer Weite und Stille zu evozieren, als wäre nichts geschehen.

Im nächsten Schönberg-Block nimmt der Meister dann die eigene Zunft auf die Schippe. Mit „Drei Satiren“ macht er sich in säuerlich-modernistischem Ton über die Frage „Tonal oder atonal?“ lustig, knöpft sich den „kleinen Modernsky“ vor – gemeint ist Strawinsky, mit dem den meinungsstarken Schönberg eine heftige und durchaus gegenseitige Ablehnung verband – und buchstabiert den „neuen Klassizismus“ aus bis hin zu einer zerquälten Schlussfuge. Daran hat Stok ein boshaftes Kurzliedchen angehängt, das geht so: „Man mag über Schönberg denken, wie man will“ und endet mit dem unschuldigen Seufzer „Ach ja.“ Noch Fragen?

Mehr Klassik in der Elbphilharmonie

Der Blick auf einige der kommenden Konzerte zeigt, wie vielfältig die Arbeit des Ensembles ist. Am 19. Dezember singt es in der Hauptkirche St. Jacobi Weihnachtsmusik aus Deutschland und Großbritannien. Der nächste Termin in der Kult-Reihe voiceXchange ist am 17. Januar im Gruenspan: Ein klassisches Vokalquartett trifft auf Soul und Funk, Mittanzen ist willkommen. Beim NDR Familienkonzert unter dem Motto „Singen im Dreivierteltakt“ erklingen Walzermelodien von Brahms und seinem Idol Johann Strauß. Dabei singt nicht nur das Ensemble, auch das Publikum ist dazu eingeladen. Am 22. Februar ist das NDR Vokalensemble mit einem Programm rund um Mozarts Kantate „Davide penitente“ in der Elbphilharmonie zu hören.

Informationen und Tickets unter www.ndr.de/vokalensemble

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