Hamburg. Michael Thalheimer inszenierte Berlioz’ „Les Troyens“. Das Orchester wirkte wie fast komplett ausgetauscht.
In diesem euphorisch und widerspruchslos gefeierten Staatsopernsaisonstart, auf den Kent Nagano und Georges Delnon drei Jahre hingearbeitet hatten, war so viel Gutes, Tolles, Widersprüchliches und Banales, dass es für mindestens zwei Premieren reicht. „Les Troyens“ von Berlioz, wenn schon, denn schon. Keine wohlfeile Mitsummoper aus dem Katalog schöner Verbindlichkeiten, sondern ein raffiniert vertonter Ausnahmezustand, von einem Komponisten, der sie wegen ihrer Übergröße nie in Gänze erleben durfte und den Grillparzer als „Genie ohne Talent“ verhöhnte.
Ein Riesenstück über das antike Vorgestern, über den Trojanischen Krieg und die Nachkriegszwischenstation von Aeneas bei Dido in Karthago, bevor es weitergehen muss, zur Gründung Roms. Solche Imperien gönnen bei Aufstieg und Fall kein privates Glück, irgendwer bleibt todsicher auf der Strecke, hier ist es Dido, sehr blutig durch eigene Hand. Eine Tragödie aber auch, die durch die Schilderung von Krieg, Unrecht, Mitleid und Flucht ins Unsichere direkt ins Heute reflektiert. Man hätte szenisch enorm viel daraus machen können. Machen müssen.
Die Regie von Michael Thalheimer jedoch entschloss sich vor allem zum Weglassen und Eindampfen und zum beharrlichen Sänger-Dauerparken am Rampenrand, als wäre Simone Young noch im Amt, die es genau so am liebsten hatte. Man könnte es auch so sehen: Der neue Generalmusikdirektor hatte sich bei dem Komponisten Pascal Dusapin eine auf praktikable drei Stunden gekürzte Produktion bestellt, die seiner Wiederaufbauarbeit am Philharmonikerniveau und an deren Kollektiv-Ego nicht gleich zu Beginn die Show stiehlt, sobald Publikum dabei ist.
Diese Rechnung jedenfalls ging bestens auf: So versiert, klangfarblich so differenziert aufgefächert, so aufmerksam vor allem im Holz waren die Philharmoniker schon seit sehr langer Zeit nicht mehr zu erleben gewesen. Es war das gleiche Orchester wie immer und wirkte doch wie fast komplett ausgetauscht. Ein nicht ganz kleines Wunder, doch für einen Exzentriker wie Berlioz oft noch zu kommod und wohlerzogen, zu wenig größenwahnsinnig. Für ihren frischen Hausgott Nagano haben die Musiker beim Start ihrer Spielplanflitterwochen, die Espritmesslatte derart hoch gehängt, dass sie daran gemessen werden dürfen.
Für seine 100. Inszenierung – seine erste an der Dammtorstraße – hat Thalheimer sich von Olaf Altmann einen Klassiker auf die leer gefegte Bühne montieren lassen: die Thalheimer-Doppelwandschlucht für Ausweglose. Links hoch und Holz, rechts hoch und Holz, in der Mitte ein sich um die eigene Achse drehendes Tor für Auftritte, Abgänge und Stimmungswechsel. Wann immer das Schicksal auf die Menschenmassen einschlägt, flutet Blut dekorativ und eindringlich diese schräge Rampe. Ein Mörderbild, buchstäblich. Das Ende des Trojanischen Kriegs findet davor nur noch als Kopfkino statt. Kein Pferd mehr und kaum Märsche, kein Grand-Opéra-Ballett-Schauwert-Gedöns, Requisiten schon gleich gar nicht. Nur Blut, das floss, oder Wasser, das reinigte. Wann immer weder Blut noch Wasser flossen, wurde brav mittig oder an den Wänden entlang posiert, mit raumgreifenden Gesten, die fast so antik waren wie der Plot.
Dass ausgerechnet die einzige stumme Rolle – die Schauspielerin Catrin Striebeck als Hectors trauertobende Witwe Andromaque – im Troja-Teil mit ihrem verzweifelten Realismus aus diesem Konzeptkorsett ausbrechen durfte, machte die Sache noch sonderbarer, weil man in diesen Momenten sah, dass es auch weniger starr gegangen wäre. Es gibt auch keine Tableau-Alternative, um Karthago im zweiten Teil anders aussehen zu lassen als Troja im ersten. Eher kleines Konzept also, dafür aber stimmlich fast durchgängig viel größeres Kino als in den Vorjahren.
Weit oberhalb von beeindruckend war die Leistung des Chors, den Eberhard Friedrich bestens auf die beachtlichen Aufgaben getrimmt hatte. Hinreißend unterfordert: Julian Prégardien in der Nebenrolle des Hylas, der dessen Seemannslied zu einem großen Moment machte. Christina Gansch, noch im Opernstudio, empfahl sich als Ascagne für Größeres.
Tapfer, aber chancenarm beim Ausmaß seiner Rolle, schlug sich der seit einigen Tagen stimmlich indisponierte Tenor Torsten Kerl, dessen Enée am Premierenabend zu oft nur eine Ahnung von der Partie vermittelte, weil gekämpft statt geformt wurde. Catherine Naglestads Cassandre, packend und durchschlagend, war die erste große tragische Heldin. Die zweite und noch größere war Elena Zhidkova als Didon. Eine wunderbar samtweich und stilsicher fließende Mezzostimme, die vom ersten Ton an in ihren Bann schlug und so vergessen ließ, dass ihrer Besitzerin bis ins Finale nur Opern-Barbie-Posen vergönnt waren. Selbst beim Duett von Didon und Enée durften die Liebenden in der „Nacht der Trunkenheit und Ekstase“ nur arg hüftsteif zueinander finden, während vom Bühnenhimmel das Kitschkonfetti rieselte, als wären wir bei Lloyd Webber und Berlioz so betörend klang, wie ein verführerisches Parfum riecht. Dieses Niveau überbordender Enthemmtheit hätte die gesamte Produktion verdient. So war sie vor allem ein Versprechen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
„Les Troyens“ 23./26.9., 1., 9., 14.10., Staatsoper, 19.00 und am 4.10. 15.00. Karten (5 bis 87 Euro) unter T. 356868.