Hamburg. Mit der von ihm neu gegründeten Philharmonischen Akademie St. Michaelis sucht Kent Nagano nach dem Klang, mit dem sich die Stadt identifizieren kann.

Nur eine dicke, rote Kordel trennt den öffentlich zugänglichen Raum vom temporären Probenbereich des Philharmonischen Staatsorchesters. Sie soll die Besucher von St. Michaelis diskret am Besteigen jener Treppe hindern, die zur Nordempore hinaufführt. Was akustisch von dort oben in den Kirchenraum dringt, lässt sich schwerlich überhören.

Fragmente des letzten Klavierkonzerts von Mozart sind zu vernehmen, unterbrochen von so leisem Sprechen, dass die Worte unten kaum mehr verständlich sein dürften. Kein Klavier. Geprobt wird ohne Solist. Und das Philharmonische Staatsorchester sitzt natürlich nicht in voller Mannschaftsstärke da oben, sondern in Kammerbesetzung. Ist ja Mozart. Und der Raum mit seiner diffusen Kirchenakustik wirkt ohnehin wie eine kaum kontrollierbare Groß-PA.

„Ich bin fasziniert von dem Schatz, den ich mit diesem Orchester vorfinde“

Das leise Sprechen kommt von einer zarten Gestalt, deren Silhouette vom Kirchenraum aus mehr zu erahnen als zu sehen ist. Graumeliertes, halblanges Haar. Ein kaffeebrauner Pullover. In der linken Hand hält die Gestalt einen Dirigentenstab. Aber die Hand mitsamt Stab hält sich am Geländer des Podiums fest. Dirigieren tut nur die rechte. Die vor ihr sitzen, sehen: Sie tut dies auf eine ebenso beiläufige wie konzentrierte Art, graziös, weich, fast mehr noch zuhörend als gestaltend. Was sich hier ereignet, in der Zufallsöffentlichkeit vor Hamburg-Touristen an einem ganz normalen Nachmittag unter der Woche, ist nichts Geringeres als die Geburtsstunde der Philharmonischen Akademie St. Michaelis.

Sie ist quasi die Morgengabe des neuen Hamburgischen Generalmusikdirektors Kent Nagano an die Stadt Hamburg. „Ich wollte“, wird er später erläutern, „für das Orchester, für mich, für die Stadt, für die ganze Welt die Frage stellen: Wie soll die musikalische Sprache, die wir in Hamburg haben, sein? Wie soll sie klingen? In Städten wie Chicago, Cleveland, Wien oder Amsterdam ergibt sich ein aus vielen Einzelbildern zusammengesetztes, aber doch klar identifizierbares Bild von den jeweiligen Sinfonieorchestern dieser Städte. Ich bin neu hier, ein Amerikaner, fasziniert von dem Schatz, den ich mit diesem Orchester hier vorfinde.“

Es geht ihm um etwas unverwechselbar Hamburgisches, um Respekt vor der Tradition. Und was Nagano spürbar mehr beschäftigt als die Grenzen der Physik, an die ein Orchesterklang in St. Michaelis zwangsläufig stößt, ist die Metaphysik des Ortes, der Genius loci: „In St. Michaelis kann man wirklich Seele fühlen“, sagt er.

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    Diese Akademie St. Michaelis ist Nagano so wichtig, dass er das erste Konzert mit ihr vor seine beiden anderen Debüts in Hamburg gestellt hat, vor die mit Spannung erwartete Saisoneröffnung an der Staatsoper und vor das reguläre 1. Philharmonische Konzert. Deshalb wird Generalmusikdirektor Nagano schon jetzt am Sonntag sein erstes Konzert leiten – mit Schönbergs Kammersinfonie op. 9 für 15 Soloinstrumente, Brahms’ Serenade Nr. 1 D-Dur und eben jenem Klavierkonzert B-Dur KV 595, bei dem Menahem Pressler, der kleine, wunderbare Grand-seigneur des noch mit dem Geist des 19. Jahrhunderts imprägnierten deutschen Klavierklangs, den Solopart übernimmt.

    „Wenn Pressler spielt, hört man eine Stimme, eine Stimmung wie aus einer anderen Welt“, erklärt Nagano den Musikern, ehe sie das Larghetto proben und nachdem er sie gebeten hat, da besonders leise zu spielen. „Er hat etwas zu sagen, das nur sehr, sehr wenige Leute zu sagen haben.“

    Es ist ein lustiges Musikeresperanto aus Deutsch, Englisch und italienischen Vortragsbezeichnungen, das die Konversation Naganos mit den Musikern prägt. „Das war sehr, sehr schön“, lobt er etwa die drei Celli, „this is coming out of the Ruhe now.“ Der Ton ist respektvoll und allenfalls für Außenstehende etwas gewöhnungsbedürftig. Des Dirigenten Phrasierungswunsch „a little more Komma before the zweite Ton“ wird von den Musikern prompt erfüllt.

    „Ein freundliches Miteinander“, sagt Thomas Rohde, Solo-Oboist und seit 1988 bei den Philharmonikern. Das immerhin zeichnet sich schon ab, auch wenn man sich mit dem neuen GMD noch „in der blutigen Anfangsphase“ befinde. Ist der neue Ton nach zehn Jahren Simone Young auch eine Erlösung? „Es ist was anderes“, sagt Rohde, ganz Diplomat. „Mit Simone, da kannten wir alles voneinander. Wir hatten wirklich ein offenes, ehrliches Verhältnis zueinander. Jetzt kommt ein anderer Stil, der ist unerhört kultiviert. Es ist wie wenn man den Reset-Knopf drückt. Man lässt sich auf etwas Neues ein, auf die neue Person da vorn und auf die neue Politik im Hause.“

    Das Orchester, in der Findungszeit von Kultursenatorin Barbara Kisseler vor eine personelle Alternative gestellt, habe klar Nagano gewollt. „So, wie wir damals auch Simone gewollt haben.“ Den zweiten Namen, der zur Diskussion stand, mag Rohde nicht nennen. Nagano sei dann früh auf die Musiker zugegangen und habe sie gefragt: „Was ist für Sie besonders? Wie ist Ihr Klang?“

    Die Musiker brechen mit ihren Gewohnheiten

    Tatsächlich scheint sich Kent Nagano ziemlich rettungslos in den Klang unseres Philharmonischen Staatsorchesters verliebt zu haben. Es ist ein Sound, dem er, der Surfer auf pazifischen Wellen vor dem Strand seiner kalifornischen Heimat, Tiefe zuschreibt, Vieldeutiges, Vielschichtiges, Unergründliches. „Der Streicherklang ist so profund, dass man nicht nach unten sehen kann, wie auf dem Meer. Es kann hellblau sein, es kann schwarzblau sein, aber in beiden Fällen sieht man nicht bis zum Grund.“ Mit manchen Orchestern könne man das erarbeiten, „aber bei diesem hier gehört es zum Wesen. Es ist so berührend, das zu hören. Und es mischt sich so gut mit diesem farbenreichen Holzbläserklang und den warmen, weichen Blechbläsern.“

    Das bedeute nicht, dass das Orchester nicht auch schnell, hart, brillant spielen könne, wenn das verlangt sei. „Ich spreche nur über dieses sehr seltene Phänomen einer sehr alten Tradition. 1678 hat die Oper hier in Hamburg angefangen. Wie viele Häuser können von sich behaupten, eine so lange Geschichte zu haben?“

    Der Neustart in St. Michaelis stellt das Orchester noch vor eine zweite Herausforderung. Hier, „in der Hamburger Stube“, wie Oboist Rohde den Michel nennt, wird am Montag ein zweites ad hoc zusammengesetztes Philharmonisches Kammerorchester die sechs Brandenburgischen Konzerte von Bach aufführen – ohne Dirigent. Für derlei Experimente opfern die Musiker, sonst berühmt-berüchtigte Wahrer ihrer Berufsinteressen, deren vornehmstes darin besteht, dass ja keiner ihre geregelten Dienstzeiten strapaziert, sogar Gewohnheiten. „Nachmittags proben wir sonst nie“, sagt Rohde.

    Und Nagano: Ist er schon angekommen in der Stadt? „Ich bin aus der Nähe von San Francisco“, sagt er. „Hier riecht es wie in San Francisco, das Licht ist ähnlich, die Nebel sind ähnlich. Wir haben mehr Berge und die Golden Gate Bridge. Aber hier werden wir ja die Elbphilharmonie haben.“ Klingt auch ein bisschen nach Claim abstecken.