Der neue Generalmusikdirektor Kent Nagano weiß, wie viel Arbeit jetzt für ihn beginnt.

Das stärkste kulturpolitische Bild am Abend der Premiere von Berlioz’ „Les Troyens“, mit dem die neue Staatsopern-Doppelspitze aus Kent Nagano und Georges Delnon ihre Amtszeit begannen, lieferte nicht die Regie. Das lieferte der Erste Bürgermeister. Beim After-Show-Senats­empfang auf der Bühne hielt Olaf Scholz eine Rede, umrahmt vom Tunnelblick-Bühnenbild aus mächtigen Holzwänden. Neben sich die beiden Hoffnungs- und viele lokale Würdenträger und Gönner. Doch hinter sich als Verpflichtung, Ansporn und Frohkulisse die leeren Sitzreihen der Hamburgischen Staatsoper, die 2015 ihren 60. Geburtstag unter diesem Nachkriegsbaudach feiern kann. Und die in den vergangenen Jahrzehnten schon viel bessere, viel aufregendere Zeiten erlebt hat. Der letzte Schweizer vor Delnon, der an der Dammtorstraße Intendant war, hieß Rolf Liebermann. Legende. Heute noch. Zu Recht. Lange her.

Genau darum geht’s, sagte diese Perspektive, viel eindrücklicher als die wohlfeil zurechtgelegten Worte von Scholz, der mit Platon, Nietzsche und Kant sogar ins Philosophieren kam. Der Blick in den Raum, am Realpoli­tiker vorbei, sagte: Dem gilt’s mit der ganzen leichten schweren Kunst hier. Besucher faszinieren, Perspektiven aufzeigen, Neues wagen, Bekanntes hinterfragen. Nerven und umhauen, beides auf hohem Niveau. All das, was immer wieder von Künstlern verlangt werden muss. All das, wofür Politiker Geld aus öffentlichen Kassen investieren, weil sie damit in gesellschaftliche Bildung investieren und nicht nur, wie Kulturbanausen ja gern behaupten, viel Bares in ein bodenloses Loch werfen, um gestrige Eliten-Bespaßung mit Steuergeld zu pampern.

Nach der Premiere, die vom ­Premierenpublikum mit vehementem Nachdruck für toll befunden wurde, ist nun vor der Premiere für die beiden Neuen in der Chefetage. Das Musiktheater-Rad neu erfunden hat bei dieser ersten Inszenierung niemand, dafür war die Regiearbeit von Michael Thalheimer über weite Strecken zu statisch und zu klar auf gut erkennbare Effekt-Effizienz ausgerichtet. Doch Delnon wird hoffentlich wissen, dass ein Spielplan für ein so großes Staatstheater wie die Hamburger Oper mehr sein muss als die Summe seiner Einzelteile. Er wird hoffentlich an Schwerpunkten arbeiten, Stilvielfalt ermöglichen und so für Auftrieb und Aufregung sorgen. Selbst ein Welt-Darling wie der fast ewige Ballettchef John Neumeier wird nicht auf ewig für bombastische Auslastungszahlen sorgen können.

Interessanter war der erste öffentliche Boxenstopp Naganos mit seinem neuen Orchester. Die Philharmoniker hatten ihn nach zehn Jahren erst mit, dann unter und oft auch gegen seine Vorgängerin Simone Young herbeigesehnt wie den einzigmöglichen Heilsbringer. So benahmen sie sich an diesem Abend auch, sie wuchsen weit über sich hinaus. Es war bislang aber auch noch sehr viel Luft nach oben über dem Staatsopern-Graben gewesen.

Doch Nagano ist lange genug in seinem Job weit herumgekommen, um zu wissen, dass ein Orchester – sei es auch noch so verknallt in den frischen Maestro – nicht von jetzt auf gleich komplett anders spielt, bloß weil ein anderer vor ihnen steht und seinen Taktstock durchlüftet. Musik ist Herzensbildung, aber auch Vertrauens­sache, und sie dauert. Das NDR Sinfonieorchester und dessen Chef Thomas Hengelbrock haben den Philharmoniker-Kollegen vorgespielt, dass und wie das geht. Kent Nagano wird erst noch aufholen und noch radikaler werden müssen, als es diese Opern-Premiere und sein wertkonservativer KonzertSpielplan andeuten. Mit etwas Glück und nach sehr viel Arbeit könnten die nächsten Jahre spannend werden.