Die „Spiegel“-Affäre 1962 erschütterte die Bundesrepublik und endete als Sieg der Pressefreiheit. Größter Verlierer war Franz Josef Strauß.

Die Watergate-Affäre, an deren Ende der Absturz eines US-Präsidenten in die historische Schande stand, begann erst zehn Jahre später, sie machte die „Washington Post“-Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein zu Superhelden ihres Berufs.

Für einen jungen, ehrgeizigen und offenbar furchtlosen Journalisten und Herausgeber namens Rudolf Augstein war der 26. Oktober 1962 das Datum, der sein Leben und sein Image – und das seines Hamburger Magazins – ähnlich klar in ein „Davor“ und ein „Danach“ einteilte.

Spiegel Hamburg: "Publizistischer Terror"? Razzia im Pressehaus wegen Enthüllungsartikel

Die „Spiegel“-Affäre kostete zwar „nur“ einen bundesrepublikanischen Verteidigungsminister aus Bayern und zwei Staatssekretäre ihr Amt, aber die Auswirkungen auf das politische Gewissen der damaligen BRD waren nicht weniger als epochal.

Aus heutiger Sicht begann dieser Medien- und Polit-Thriller eher routiniert, als interessante Investigativ-Geschichte. Die „Spiegel“-Redakteure Conrad Ahlers und Hans Schmelz hatten in Heft Nr. 41/1962 unter der legendär gewordenen Überschrift „Bedingt abwehrbereit“ aus ihnen zugespielten Informationen herausgearbeitet, dass die Bundeswehr keineswegs so gut gegen den Feind aus dem Osten aufgestellt war, wie es deren Fachminister Franz Josef Strauß (CSU) deutlich lieber gelesen hätte.

Die gerade abgeschlossene Nato-Übung „Fallex62“ würde belegen, dass die Armee weder genügend Waffen und Männer noch eine passende Strategie habe. Komplett neu waren diese leicht langatmig aufbereiteten Thesen allerdings nicht mehr. Wer gewollt hatte, hätte darüber bereits in einem früheren Artikel lesen können, und in einer Sonntagszeitung. Das Drama begann.

Die „SPIEGEL“-Ausgabe 41/1962 – auf dem Foto: Bundeswehr-Generalinspekteur Friedrich Foertsch – löste mit dem Artikel „Bedingt abwehrbereit“ die „SPIEGEL“-Affäre aus,
Die „SPIEGEL“-Ausgabe 41/1962 – auf dem Foto: Bundeswehr-Generalinspekteur Friedrich Foertsch – löste mit dem Artikel „Bedingt abwehrbereit“ die „SPIEGEL“-Affäre aus, © picture alliance/dpa/Der Spiegel | -

"Spiegel"-Affäre 1962: Franz Josef Strauß ist einer von Augsteins Leib- und Magen-Feinden

Auftritt des Schurken: Schon seit 1957 war der rustikale Bajuware Strauß einer von Augsteins Leib- und Magen-Feinden, Augsteins liebste Arbeitsthese lautete: „Der muss weg!“ Eine „Spiegel“-Enthüllungsgeschichte nach der anderen klagte Strauß’ spätrömisches Verständnis von Macht und Ordnung an, und die Verachtung war durchaus gegenseitig, nicht zuletzt, weil beide rhetorisch geschliffene Machtmenschen waren, die sich auf Augenhöhe hassten. Strauß hielt Augstein für einen „publizistischen Robbespiere“.

Sogar dem ansonsten rheinisch frohsinnigen Bundeskanzler Adenauer war sein Minister nicht ganz geheuer: „Wenn einem die Affären so nachlaufen wie dem Herrn Strauß, da muss wat dran sein.“ Für Strauß’ Ministerium roch diese Manöverkritik durch den „Spiegel“ streng nach Landesverrat, weil in der 17-seitigen Titelgeschichte angeblich 41 Staatsgeheimnisse ausgeplaudert worden waren – darunter wurde sogar der Name eines Schauspielers einsortiert, der während des Nato-Manövers den Herrn Verteidigungsminister verkörpert hatte.

Der Gutachter, dem Strauß’ Haus diese Einsicht zu verdanken hatte: ein Jurist aus der Strafrechtsabteilung des Verteidigungsministeriums. Sehr kurzer Dienstweg für den Herrn Minister, gewissermaßen. Für ihn war dieser „Spiegel“-Artikel dann auch „publizistischer Terror“.

"Spiegel"-Affäre: Polizei stellt Hamburger Pressehaus auf den Kopf und Bonner Büro

Man griff sehr schnell zum sehr großen Justiz-Besteck, um es diesen aufmüpfigen Schreiberlingen aus Hamburg richtig reinzureiben, mit wem sie sich nun genau ein Mal zu viel angelegt hatten: sieben Haftbefehle für die Autoren und ihre Vorgesetzten, dazu Durchsuchungsanordnungen, um am späten Abend im Pressehaus am Speersort (heute noch Sitz der „Zeit“) sowie im Bonner „Spiegel“-Büro nach Hinweisen auf die undichten Stellen zu fahnden.

In den Tagen vor dem Ortstermin hatten mehrere Mitarbeiter sonderbares Knacken in ihren Telefonleitungen gehört. Es war offenbar etwas Größeres im Busch. Auch der MAD war mit dabei, er gab seiner geheimen Spähoperation den sinnigen Decknamen „Sabotage“. Augstein nannte man „Libelle“.

Die Abendblatt-Titelseite vom 27./28. Oktober 1962.
Die Abendblatt-Titelseite vom 27./28. Oktober 1962. © HA | Ha

20 Polizisten unter der Leitung von Kriminaloberkommissar Karl Schütz sowie drei Überfallkommandos umstellten das Pressehaus und versperrten an diesem Herbst-Abend den Eingang zu den „Spiegel“-Räumen im sechsten Stock, ähnlich viele Redakteure saßen überrumpelt dort fest. Auch die Privatwohnungen der Chefredakteure wurden durchsucht.

Der Vorwurf: Man habe Artikel veröffentlicht, „die sich mit wichtigen Fragen der Landesverteidigung in einer Art und Weise befassen, die den Bestand der Bundesrepu­blik sowie die Sicherheit und Freiheit des deutschen Volkes gefährdeten.“

Redakteur versteckte sich erfolgreich mit Fernsprechapparat im Schrank

Insgesamt 117 Räume und knapp 3000 Quadratmeter Bürofläche wurden von der Außenwelt abgeschnitten. Telefonate wurden verboten, doch ein Redakteur versteckte sich erfolgreich mit seinem Fernsprechapparat in einem Schrank.

Ein Film mit Fotos von der Besetzung wurde von einer Laborhelferin in ihrem BH nach draußen geschmuggelt. Die Staatsmacht beschlagnahmte 30.000 Seiten Unterlagen, dazu alle Schreibmaschinen, um Schriftvergleiche anzustellen.

„Wir waren völlig desorientiert, weil kein Mensch wusste, was vor sich ging“, erinnerte sich der „Spiegel“-Journalist Dieter Wild an diesem Abend. „Es wurde wild spekuliert, aber ohne jede Faktenbasis. Es hätte ja auch sein können, dass ein Mord passiert war.“

Der diensthabende Chefredakteur Claus Jacobi durfte die aktuelle Ausgabe zwar produzieren, musste sich aber die Druckfahnen von einem Ermittlungsrichter absegnen lassen. Einen Monat wird die Besetzung dauern, und eine „Spiegel“-Ausgabe wird nicht erscheinen.

Innensenator Helmut Schmidt (SPD) fordert am 31. Oktober 1962 vor der Universität in Hamburg mit einem Megafon die erregte Menge zur Ruhe auf. Tumulte hatten am Abend des 31.Oktober 1962 eine Podiumsdiskussion über die Verhaftung von „SPIEGEL“-Redakteuren verhindert.
Innensenator Helmut Schmidt (SPD) fordert am 31. Oktober 1962 vor der Universität in Hamburg mit einem Megafon die erregte Menge zur Ruhe auf. Tumulte hatten am Abend des 31.Oktober 1962 eine Podiumsdiskussion über die Verhaftung von „SPIEGEL“-Redakteuren verhindert. © picture alliance / dpa | picture alliance

Dass der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (SPD) wegen dieser Razzia „schwere politische Bedenken“ angemeldet hatte, wundert nicht. Änderte aber auch nichts am rabiaten Vollzug. Informiert worden war Schmidt erst eine halbe Stunde vor Beginn der Aktion.

Journalist Ahlers im Urlaub verhaftet, Rudolf Augstein war 103 Tage im Knast

Der Journalist Ahlers, gerade im spanischen Torremolinos im Urlaub, wurde dort um drei Uhr morgens verhaftet. Auch diese Rechtsbeugung ging auf Strauß’ Konto. Er hatte dem deutschen Militär-Attaché – ein CSU-Mitgründer und Duzfreund von Strauß – in Madrid wegen angeblicher Fluchtgefahr vorgeflunkert: „Ich handle in diesem Moment auch im Namen des Herrn Bundeskanzlers.“ Augstein sei bereits nach Kuba geflohen.

Vor seiner Abreise hatte Ahlers seiner Sekretärin einen gut gefüllten DIN-A4-Umschlag mit Unterlagen konspirativ anvertraut. Als der damalige Bundesstaatsanwalt Siegfried Buback davon Wind bekam, nahm er die junge Frau höchstpersönlich in die Verhörmangel. Ergebnislos.

Auch der Hamburger Innensenator Schmidt wurde unfreiwillig Teil dieser Geschichte, denn Ahlers war ein Studienfreund des SPD-Politikers und hatte sich mit ihm über den Artikel ausgetauscht. „Ich habe es überflogen“, beschrieb Schmidt diese Textbesichtigung später.

Bei der Razzia im Pressehaus fand man ein Manuskript mit handschriftlichen Anmerkungen Schmidts. Erst 1965 wurden die Anschuldigungen wegen Beihilfe zum Landesverrat aus Mangel an Beweisen fallen gelassen.

Am 30. Oktober demonstrierten Studenten und Studentinnen mit einem Sitzstreik vor der Frankfurter Hauptwache gegen die Verhaftung von „SPIEGEL“-Redakteuren. Mit dabei war auch die Tochter einer Demonstrantin, die eine „SPIEGEL“-Ausgabe hält.
Am 30. Oktober demonstrierten Studenten und Studentinnen mit einem Sitzstreik vor der Frankfurter Hauptwache gegen die Verhaftung von „SPIEGEL“-Redakteuren. Mit dabei war auch die Tochter einer Demonstrantin, die eine „SPIEGEL“-Ausgabe hält. © picture-alliance / dpa | picture alliance

Augstein selbst stellte sich kurz nach der Nacht-und-Vernebelungs-Aktion der Bundesstaatsanwaltschaft und ging am 28. Oktober 1962 für 103 Tage als unbeugsamer Streiter für journalistische und rechtsstaatliche Prinzipien in den Knast, wo er reichlich Fan-Post bekam.

Der „Zeit“-Grande Theo Sommer berichtete später, Augstein habe nachts in der U-Haft nicht schlafen können – aber nicht vor Sorge, sondern wegen der Demonstranten, die ausdauernd vor seinem Zellenfenster riefen: „Alle Leute müssen schrein: Augstein raus und Strauß hinein!“ Die Schlagersängerin Trude Herr trällerte dazu passend „Tanz mit mir den Spiegel-Twist, auch wenn du von der Kripo bist“.

„Spiegel“-Redaktion machte trotzigweiter, unterstützt von anderen Medien

Die „Spiegel“-Redaktion machte unterdessen trotzig und stolz weiter, tatkräftig unterstützt von den anderen hiesigen Blättern („Zeit“, „Stern“, „Mopo“) unter dem Dach des Pressehauses, auch der politisch nun wirklich nicht unmittelbar benachbarte Springer-Verlag zeigte sich solidarisch.

In mehr und mehr deutschen Städten fanden Protestkundgebungen statt. Für den „Spiegel“, gegen Strauß, gingen Linke wie Konservative mit Slogans wie „Spiegel tot – Freiheit tot!“ auf die Straßen. Am 1. November fand eine Diskussionsveranstaltung im randvoll besetzten Audimax statt.

Strauß wiederum gab am 2. November, gewohnt vollmundig, zu Protokoll: „Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu tun.“ Der Historiker Sebastian Haffner nannte die von Strauß losgetretene Aktion einen „kriegsähnlichen Überfall“.

CSU-Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (l.) im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) am 9. November 1962 während der dritten „SPIEGEL“-Debatte im Bundestag in Bonn. Strauß verlor wenig später sein Amt.
CSU-Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (l.) im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) am 9. November 1962 während der dritten „SPIEGEL“-Debatte im Bundestag in Bonn. Strauß verlor wenig später sein Amt. © picture-alliance / dpa | picture alliance

Zweiter Akt des Dramas: Auftritt Adenauer. Der CDU-Bundeskanzler ließ sich am 7. November 1962 von seiner eigenen Selbstgewissheit dazu hinreißen, noch vor Abschluss der Ermittlungen im Bundestag einen „Abgrund von Landesverrat“ auszumachen. Eine griffige Formulierung, aber keine gute Idee.

Letzter Akt und Happy End, zumindest für eine Seite: Regierungskrise, weil aus der Medienaffäre längst eine Staatsaffäre geworden war. Strauß spielte zunächst ein weiteres Mal Hase und tat so, als habe er nie etwas vom Ausmaß der staatlichen Angriffe auf die Pressefreiheit gewusst – und sie natürlich erst recht nicht angeordnet.

Von Strauß kollateralbeschädigt war auch der damalige FDP-Justizminister Stammberger. Nachdem deswegen alle FDP-Minister des Adenauer-Kabinetts zurücktraten und auch Strauß wegen seiner Lügen gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit seinen Stuhl räumen musste, zerbrach die Regierung Mitte Dezember 1962. Adenauers nächstes Kabinett, sein letztes, hatte keinen Platz für Strauß mehr frei.

Treffer, versenkt.

Seine Hoffnungen auf die Kanzlerschaft konnte Strauß damit begraben, und sie blieben es bis zu seinem Lebensende. Rudolf Augstein, nach monatelanger Beugehaft um 15 Pfund leichter, ging am 7. Februar 1963 als moralischer Sieger vom Schauplatz. Strauß beschimpfte dessen Magazin als „die Gestapo unserer Tage“. Geschadet hat auch diese Beleidigung dem Magazin nicht, denn es war nun international bekannt.

Die Auflagenzahlen beim „Sturmgeschütz der Demokratie“ (Augstein über seinen Lebensinhalt) gingen steil nach oben. Hans Detlev Becker, Augsteins langjährige rechte Hand, erklärte viele Jahre später: „Danach wusste jeder in ganz Deutschland, dass es den „Spiegel“ gibt. Es ist das genaue Gegenteil dessen eingetreten, was diejenigen planten, die das angezettelt hatten.“

Bundesgerichtshof betonte die Bedeutung der Pressefreiheit

Der auch juristische Freispruch für die Zeitschrift kam allerdings erst 1965, als der Bundesgerichtshof keinen wissentlichen Verrat von Staatsgeheimnissen bestätigte.

Und im August 1966 kam das Bundesverfassungsgericht zu dieser zeitlos richtigen Einschätzung der Bedeutung von Pressefreiheit: „Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.“ Alle „Spiegel“-Journalisten wurden freigesprochen.

Spiegel Hamburg: Rudolf Augstein wird 1993 zum Hamburger Ehrenbürger ernannt

Bei diesem Thema unbelehrbar blieb, wenig überraschend, Franz Josef Strauß: „Ich bin damals behandelt worden wie ein Jude, der es gewagt hätte, auf dem Reichsparteitag der NSDAP aufzutreten. Es gab Anzeichen eines Massenwahns – ohne Rücksicht auf die Fakten wurde für den „Spiegel“ und damit gegen mich agiert und agitiert.“

Als das CSU-Unikat 1988 nach einer Hirschjagd starb, sei Augstein geradezu in eine Depression gefallen, berichteten Zeitzeugen, weil ihm der Tod seinen zeitlebens liebsten Gegner vom politischen Schachbrett genommen hatte.

„Was sind 103 Tage Gefängnis in einem langen Leben, wenn dadurch so viel erreicht wurde“, blickte Augstein 2002 auf seine drei Monate als Hamburgs prominentester Untersuchungshäftling zurück. 1993 war er zum Hamburger Ehrenbürger ernannt worden und hatte sich damals herzhaft amüsiert gefreut: „Ich bin wohl der einzige Ehrenbürger dieser Stadt, der echte Handschellen getragen hat.