Hamburg. Mit Lust am Schrillen und Voldemort-Vibes hat Regisseur Christopher Rüping Benjamin von Stuckrad-Barres Roman auf die Bühne gebracht.
Das Böse ist schon fast lächerlich offensichtlich. Da ragt es empor, mitten in Berlin, diesem düsteren, dauerverregneten Loch. Mit seinen Gruselgiebeln und Fledermausornamenten erhebt sich das Horrorhaus über die Stadt, aus den Särgen und dem Portal quillt die schaurige Hoodie-Sekte, unter Glockengeläut werden immer neue Krawall-Buchstaben an der Fassade hochgezogen. Und der Besitzer dieser Psycho-Villa schreitet voran – oder seufzt melancholisch den Vollmond an, zarte Kulturseele, als die er gilt.
„Realität – total überschätzt“, heißt es an einer Stelle, was sich im Text eigentlich auf das exzentrische Hollywood-Hotel Chateau Marmont bezieht. Ist aber natürlich auch ein prima Konzept für das Theater an sich, die Kunst ist schließlich nicht auf Wahrheit, höchstens auf Wahrhaftigkeit angewiesen. Und so finden auch Bühnenbildner Peter Baur und Kostümfrau Lene Schwind ihre kolossal überdrehten und trotzdem sofort einleuchtenden Bilder für den einflussreichen Axel-Springer-Verlag, nein, pardon, für den dauerbrüllenden und rein fiktiven „Sender“ natürlich, den Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem jüngsten Roman „Noch wach?“ zum Schauplatz einer #MeToo-Story macht.
Stuckrad-Barre: Mit Lust am Schrillen schafft das Thalia die Uraufführung
Nun hat Regisseur Christopher Rüping (der schon den ebenfalls autobiografischen Stuckrad-Barre-Roman „Panikherz“ für die Bühne übersetzt hatte) nur wenige Monate nach Erscheinen die Uraufführung zum Saisonstart am Hamburger Thalia Theater besorgt. Mit Lust am Schrillen bei spürbarem Bewusstsein für die Relevanz und die Komplexität des Themas.
Kein Buch ist in Deutschland lauter beworben, aufgeregter diskutiert worden als dieses, das so unverhohlen als Schlüsselroman über die Verkommenheit mächtiger, leider gern überaus toxischer Männer daherkommt, in deren Umfeld sich Stuckrad-Barre jahrelang ganz selbstverständlich bewegt hat. Ein Autor, der als Exklusivschreiber für Springer dienstete und zwar nicht mit Ex-“Bild“-Kommandeur Julian Reichelt, aber doch mit Verlagschef Mathias Döpfner eine enge Männerfreundschaft pflegte, und der selbst permanent zwischen Selbstzweifel und Hybris flippt („Ich habe immer Angst, man denkt, ich sei wieder auf Koks“), das allerdings unterhaltsam literarisch zu verdichten versteht.
Immer wieder wird aus dem Parkett heraus agiert
Rüping macht aus der Vorlage ein bizarres, bühnenwirksames Schauermärchen, aber schon die Sprache, diese absolut heutige, von Anglizismen, Ironie und Begriffen wie „Gratis-Hashtag-Dödel“ durchzogene Stuckrad-Barre-Sprache, verankert das Märchen direkt in der Gegenwart. Die frische Brise, die man im Parkett besonders dann spürt, wenn die Regenmaschine ihr Ding macht, zieht sich auch ohne Schnürboden-Gepladder durch die Szenen.
Der Luftaustausch zwischen Bühne und Zuschauerraum ist ausgeprägt. Immer wieder wird aus dem Parkett heraus agiert, wird das Publikum zum Teil der Selbsthilfegruppe erklärt, in der sich Stuckrad-Barre und seine Protagonistin erstmals begegnen, und werden die Zuschauenden so lässig wie maliziös mit dem Geschehen verknüpft: „Ich hoffe, Sie haben die Pause nicht genutzt, um jemanden zu belästigen?“ Zwinkizwonki. „Bist du am Ende nicht einfach auch so einer?“
Dem schillernden Ich-Erzähler gönnt Rüping ein ganzes Glamour-Kollektiv
Interessante Frage, zumal während einer Premiere. Manch einer aus dem Parkett dürfte tatsächlich schon einmal bei einem Abendessen mit dem kultivierten Mathias Döpfner (der nie genannt wird, aber immer subkutan mitläuft) gewesen sein oder bei einer Vernissage in dessen Potsdamer Villa. Oda Thormeyer taxiert an einer Stelle süffisant den ökonomischen Wert der versammelten Zuschauerschaft, da kommen womöglich ein paar Milliönchen zusammen. In den ersten Reihen. „Die da oben“, unbestimmtes Handwedeln Richtung Oberrang, „kann man vernachlässigen.“ Ein Lacher.
Dem schillernden Ich-Erzähler, der plötzlich den Sexismus auf der Welt und den Feministen in sich entdeckt, gönnt Rüping ein ganzes Glamour-Kollektiv. Der Widersprüchlichkeit dieser Figur wird er damit durchaus gerecht. Der vielstimmige Benjamin-Chor (Julia Riedler, Cathérine Seifert, Nils Kahnwald, Oda Thormeyer, Matze Pröllochs, der auch die Drums bedient) glitzert silbrig mit einer Hollywood-Palme um die Wette, sie symbolisiert die Promi-Absteige Chateau Marmont in Los Angeles, den zweiten Handlungsort also und damit den größeren gesellschaftspolitischen Rahmen.
Weinstein, Reichelt, Lindemann, Trump, die Liste ließe sich beliebig erweitern
Denn es geht nicht allein um eine unappetitliche Boulevardstory, es geht um ein unappetitliches System. Weinstein, Reichelt, Lindemann, Trump, die Liste ließe sich ja beliebig erweitern. Die Sängerin Inéz begleitet das aufklärerische Vorhaben campy, aber auch ein bisschen überdeutlich mit Falco: „Out of the dark, into the light“.
Aus der funkelnden Truppe stechen insbesondere Julia Riedler mit ihrer präsenten Coolness und Nils Kahnwald hervor. Wie Kahnwald die schlaksigen, aufgekratzten Stuckrad-Barre-Bewegungen übernimmt, ohne sie zur Parodie zu steigern, ist schon ziemlich brillant. Auch als schmieriger Chefredakteur, der seinen Mitarbeiterinnen übergriffige Nachrichten wie das titelgebende „Noch wach?“ aufs Smartphone schickt, hat er ein paar unterhaltsame, präzise Kurzauftritte.
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Stuckrad-Barre: Am Ende ist das bedrohliche Gruselschloss ramponiert
Eine seiner Empfängerinnen ist Sophia, Maike Knirsch gibt ihr ein schnippisches Selbstbewusstsein. „Gut aussehen, lächeln, drüber wegkommen, einsacken, was du kriegen kannst. Kotzt mich das an? Klar kotzt mich das an.“ Sophia gründet den frauensolidarischen „Pink Tank“, kann zwischen Selbstironie und simulierter Selbstironie („Bei uns werden Sie belästigt“) unterscheiden, entzieht sich aber trotzdem dem Idealbild eines Opfers. Dieser nicht stereotypen, nicht unkomplizierten Figur mit Souveränität und Witz beizukommen, das ist reizvoll. Ihr ungesundes Verhältnis zum Chefredakteur, das wird auf der Bühne noch deutlicher als im Roman, spiegelt sich in der Männerfreundschaft des Ich-Erzähler-Clubs mit seinem „angenehmen besten Freund“, den Hans Löw als Dark Lord mit ordentlich Voldemort-Vibes versieht.
Am Ende ist das bedrohliche Gruselschloss ramponiert und die zuvor verspottete TikTok-Ästhetik kommt auch noch zu ihrem Recht. Obwohl der ausschweifende Abend mit fast dreieinhalb Stunden noch über einiges an Kürzpotenzial verfügt, trifft er – womöglich gerade durch das Mäandern – einen oft kurzweiligen Tonfall. Der sowohl das Exaltierte und Voyeuristische der Vorlage bedient als auch die Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen aushält. Dafür gibt es reichlich Applaus für das Ensemble. Und einen dankbaren Kniefall des Autors.
„Noch wach?“ läuft wieder am 10., 19. und 24. September. „Panikherz“ wird ab dem 13. Oktober wieder in den Spielplan aufgenommen. Karten gibt es unter www.thalia-theater.de