Hamburg. Nicht alle Figuren in T.C. Boyles Roman sind so klug wie ihr Schöpfer. Aber eine von ihnen isst Insekten. Für die Öko-Bilanz.

Es ist bemerkenswert, wie gnadenlos der große amerikanische Erzähler T.C. Boyle in „Blue Skies“ seine Heldinnen und Helden an die Natur ausliefert. Da wird einer von einer Zecke gebissen und verliert daraufhin einen Unterarm. Eine wird nachts fast vom Gebälk ihres Hauses erschlagen. Und wo sie einst noch mit dem Auto fuhr, ist längst das Boot das Fortbewegungsmittel der Wahl. Es gibt auch eine ältere Dame, die ihre Körperpflege im Swimmingpool betreibt. Um Wasser zu sparen.

Die Verluste sind mal größer und mal kleiner, aber der grundlegende Befund dieses fiktiven Werks ist: Wenn das Klima sich wandelt, wird alles anders und unschön. Davon könnte man ziemlich verschnarcht erzählen, stimmt’s? Oder vielleicht besser gar nicht, wo das Thema doch eh schon maximal nervt, man denke nur an die Apokalyptiker von der Letzten Generation?

T.C. Boyle: Ein Erzähler, der ein weiteres Werk der „Climate Fiction“ vorlegt

T.C. Boyle hat es dennoch getan: einen weiteren Klima-Roman geschrieben, so wie zum Beispiel Leona Stahlmann oder Maja Lunde vor ihm. „Climate Fiction“ nennt man das. Boyle ist jedoch einer der schmissigsten Erzähler überhaupt, also einer, dem man zutraut, erdenschwere Sorgen mit fast federndem Humor zu mixen.

Dabei ist „Blue Skies“ so unterhaltsam wie die TV-Serie „Extrapolations“, rechnet den Klimawandel aber weniger forciert hoch. Die Handlung des Romans erstreckt sich über wenige Jahre, ist also immer in etwa in unserer Gegenwart angesiedelt. Kein dystopischer Vorausblick, aber krass genug – in „Blue Skies“ schlägt die Natur so unmissverständlich zurück, dass eigentlich jeder, literarisches Entertainment hin oder her, das Gefühl haben könnte, sich gleich selbst auf die Straße kleben zu müssen.

Roman „Blue Skies“: Die Romanfigur Ottilie züchtet und isst Grillen

Die Moral strapaziert Boyle, der in Kalifornien lebt und bereits vor 20 Jahren in „Ein Freund der Erde“ einen tatsächlichen Öko-Terroristen auftreten ließ, in seinem neuen Buch aber nicht über. Man kann bisweilen nämlich auch vergessen, dass bei gleichbleibender realer Entwicklung das Wörtchen „fiktiv“ für die Vorgänge in „Blue Skies“ in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr hundertprozentig zuträfe. Der Roman hat manche Thriller-Elemente und ist ziemlich unterhaltsam.

Ottilie und ihr Mann Frank, ein Arzt, leben an der Westküste. Ottilie, um die 70, ist neben ihren Kindern Cooper und Cat die Hauptfigur; man ist als Leser gerne bei dieser Frau, die sich von ihrem Sohn, einem Biologen, das allzu späte weltrettende Verhalten einbimsen lässt: Sie züchtet Grillen. Sie isst Insekten.

Das mit dem Krabbelgetier ist nicht unwichtig. Oder vielmehr: gleich zweifach einer der Schocker dieses von einer geschickt inszenierten Grundangst durchzogenen Plots, der den Lesenden nie in Ruhe lässt. Boyle ist ein wahrer Könner, was die szenische Ausarbeitung eines katastrophischen Geschehens angeht. Also, die Insekten: Erst werden sie verspeist, dann sind sie eines Tages aus anderen Gründen gar nicht mehr da. Was für Cooper allein schon aus beruflichen Gründen schwierig ist. Der Mann forscht über den Monarchfalter.

Im Laufe des Romans muss er den größten körperlichen Verlust erleiden, weil die Natur eine ungeahnte Aggressivität entwickelt. In Kalifornien brennt es dann auch ständig. Eine Gefahr, die der Schriftsteller Boyle aufgrund unmittelbaren Betroffenseins bezeugen kann. Der Romanheld Cooper versumpft, bildlich gesprochen, nach dem Verschwinden der Tiere. Die Karriere kommt zum Erliegen, er trinkt mehr, tröstet sich mit Sex. Und Coopers physische Versehrtheit spiegelt das Angeschlagensein des Planeten.

„Blue Skies“: Todd und Cat leben dekadent in Florida

Dieses zeigt sich auf der zweiten Handlungsebene genauso deutlich. Coopers Schwester Cat ist nach Florida gezogen. Direkt ans Meer, ihr Erst-Lebensgefährte und Anschließend-Ehemann hat dort geerbt. Todd und Cat leben ein Leben, dessen Dekadenz Boyle in satten Farben und mit unterschwelligem Humor schildert. Es graust einen: Er ist PR-Mann für Bacardi, sie wäre gerne Influencerin, bekommt ihren Allerwertesten aber nicht so richtig hoch.

T. C. Boyle: „Blue Skies“. Übers. v. Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag, 396 S., 28 Euro
T. C. Boyle: „Blue Skies“. Übers. v. Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag, 396 S., 28 Euro © Verlag

Dafür trinkt sie einfach zu gerne, auch als stillende Mutter übrigens. Cat bringt Zwillinge zur Welt, hat aber die aus purem Ennui angeschaffte Schlange – Party-Präsident Todd verköstigt seinen Rum weltweit und lässt sie oft allein – genauso gern. Es gibt im Fortgang eine unterschiedliche Anzahl von Babys und Schlangen. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten: „Blue Skies“ ist ein düsterer Roman, und gerade mit Cat fühlt man mit, obwohl sie als beispielhafter Typ des ignoranten Erdbewohners gelten muss. Unausgesprochen lautet ihre Maxime in etwa: Hört mir auf mit dem Klimawandel.

Über den Horror, der Menschen befällt, wenn es zu spät ist

Obwohl es ihre Wahlheimat Florida ist, die unter den Hurrikanen ächzt und quasi absäuft. Mit ihrem Auto prescht Cat irgendwann durch auf den Straßen gestrandete Katzenfische. Es ist alles durcheinandergeraten.

„Blue Skies“ ist auch ein Familienroman, eine Geschichte mit Todesfall und Hochzeit, über familiären Zusammenhalt, wenn Stürme toben und Wälder brennen. Boyle erzählt vom Leben unter den Vorzeichen von Naturereignissen, die die Zivilisation im Innersten bedrohen. Und wenn es lediglich das freundliche Miteinander ist, das auf dem Prüfstand steht, wenn die Nachbarn, denen das gewandelte Klima das Zuhause weggebrannt hat, plötzlich wochenlang bei einem einziehen und auf die Nerven gehen.

Der Horror, der die Menschen anfällt, wenn es zu spät ist, entfaltet sich bei Boyle, als plötzlich alles still ist. Nichts raschelt und krabbelt mehr. Nur Spinnen überleben, als weltweit die Insekten eingehen. Die gute Nachricht: Getreidearten werden vom Wind bestäubt. Es wird also niemand verhungern. Ob sich die Insektenpopulation erholt, wird sich zeigen.

T.C. Boyle: skeptische Grundaussage, aber mit Resthoffnung

So erklären die Wissenschaftler im Roman der sorgenvollen Menschheit das Rätsel um den Arten-Aderlass, der eine globale Erscheinung ist. Wird das in der Wirklichkeit genauso sein, wenn dereinst alle Bienen weg sind? Dass Beruhigungen der Forscher gar keinen wirklichen Trost spenden?

Vielleicht sympathisiert man am Ende am meisten mit Cooper, dem desillusionierten Monarchfalter-Mann, der die Menschheit im Grunde vor allem zum Lachen findet. Es ist ein bitteres. „Blue Skies“ ist skeptisch in seiner Grundaussage, aber nicht ganz hoffnungslos.