Hamburg. Der amerikanische Autor legt seinen wohl letzten Roman vor und definitiv den dicksten: Es geht um Liebe und das Große im Kleinen.
Mehr als 1000 Seiten sind fraglos eine Unverschämtheit. Aber John Irving („Garp und wie er die Welt sah“, „Gottes Werk und Teufels Beitrag“) hat nie sonderlich kurze Romane geschrieben. „Der letzte Sessellift“, sein 15., ist konkurrenzlos sein dickster geworden. Aber Irving ist insofern ein gnadenvoller Erzähler, als er seine Textwalzen mit Dialogen durchzieht.
Es ist doch alles ziemlich szenisch, also atemlos und kurzweilig geschrieben in dieser Geschichte, die von Adam Brewster erzählt, von seinem Leben und Lieben. Und vom Leben und Lieben seiner Familie, es ist alles allerdings ein bisschen kompliziert. Wir sind in New Hampshire, in Exeter zumeist; zufälligerweise der Ort, aus dem Irving stammt. Wir sind in der Küche, Adam ist ein junger, kleingewachsener Mann mit Beziehungsproblemen.
John Irvings „Der letzte Sessellift“: Ein Roman, der teilweise in den 1950ern spielt
Jasmine, die so alt ist wie seine Mutter und dennoch seine Bettgespielin, hat einen Schreianfall. Läuft nicht so, die Beziehung, ach, alle Beziehungen. „Du Mäusepimmel, Harold, du Eichhörnchenschwanz!“, plärrt sie einem Verflossenen telefonisch entgegen. Nicht nur in Anwesenheit Adams, sondern auch von dessen Großmutter. Diskretion gibt es in dieser Familie nicht.
Über das Liebesleben Adams wissen alle Bescheid, dabei ist die Zeit, in der dieser Roman anhebt, eine, in der nicht jeder Mensch offen so lebt, wie er gerne möchte. Zum Beispiel Adams Mutter: In den 1950er-Jahren ist sie, die mehr als nur zierliche Frau („Little Ray“) und leidenschaftliche Skifahrerin, mit der kräftigen Molly liiert. Aber größtenteils heimlich. Ihr offizieller Ehemann Elliot Barlow, Adams Stiefvater, ist lediglich 1,45 Meter groß und outet sich später als transsexuell.
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Adams ältere Cousine Nora liebt ebenfalls Frauen. Wenn sie mit ihrer Gefährtin Liebe macht, schreit diese das Haus zusammen. Der 81-jährige Irving ist ein Meister darin, nicht subtil zu sein in seinen Mitteln; es ist überall der kräftige Pinselstrich, der die Erzählung in „Der letzte Sessellift“ vorantreibt. Natürlich tritt sie gleichzeitig dennoch auf der Stelle – Irvings rasender Stillstand ist ein Markenzeichen.
„Der letzte Sessellift“: Irvings klassische Motive werden auf die Spitze getrieben
Irving-Leserinnen und -Leser finden im neuen Roman einen puren Irving. Mit seinen Motiven – kleine Männer, große Frauen, Österreich, Ringen, Sex in allen Farben – spielt Irving auch das Spiel der Wiedererkennbarkeit. Auch die Vatersuche ist kein singuläres Element seines Werks.
Im neuen Roman ist diese Vatersuche auf die Spitze getrieben: Adam, den Geistererscheinungen heimsuchen (sein Opa vor allem, ein Rechtscheib-Pedant) will unbedingt wissen, wer sein Erzeuger ist. Little Ray will es ihm nicht sagen, über Jahrzehnte hinweg. Adam weiß nur, dass es in Aspen geschah, in einer einzigen Nacht – seitdem sucht er. Nach Colorado wird er irgendwann reisen, da hat man als Leser schon viele 100 Seiten hinter sich gebracht; nicht verraten werden soll, ob er fündig wird.
John Irving geht es um die Freude am knalligen Erzählen
Aber geht es darum eigentlich bei Irving, diesem kraftstrotzenden literarischen Szenenbildner? Geht es um die perfekte Auflösung? Meistens sicher nicht. Es geht um die Freude am knalligen Erzählen. Es geht um fortwährende Komik und die ständige Übertreibung. Bzw. Untertreibung, dann diese vielen kleinen Menschen, die sind ja körperlich so zurückgenommen, dass es ihre Erlebnisse sind, die sie entschädigen müssen. Oder, so ist es hier in diesem auf seine Weise sehr aktuellen, sehr progressiven und schönen Buch im Hinblick auf Diversität, die Liebe. Kleine Menschen lieben groß.
Ein Warnhinweis ist für diesen vielleicht letzten Irving-Roman allerdings geboten. Wer keine Neigung verspürt, sich mit dem Ski-Sport und insbesondere mit dessen österreichischen Errungenschaften zu beschäftigen, der könnte sich bei der Lektüre von „Der letzte Sessellift“ stellenweise langweilen. Entschädigt wird man dafür von Deutsch sprechenden norwegischen Amerikanern, die gerne Bier trinken und sich im Kino auch bei Tragödien vor Lachen ausschütten wollen. Es kann nur John Irving sein, der uns solche Figuren schenkt.