Hamburg. Kent Nagano, Jan Vogler und das Philharmonische Staatsorchester im Eröffnungskonzert des Internationalen Musikfests in der Elbphilharmonie.
„Liebe bedeutet, niemals um Verzeihung bitten zu müssen.“ Dieser Poesiealbum-Spruch aus der Hollywood-Schmalzpackung „Love Story“, die bekanntlich ganz und gar nicht happy endet, ist inzwischen über ein halbes Jahrhundert alt, aber nach wie vor grenzwertig. Einfach nur genügend fluffige Liebe und der eine oder andere Beatles-Klassiker als Emotionsverstärker für alles und jeden, dann kann man nichts falsch und, besser noch, alle mit allem glücklich machen? Diese verständliche Hoffnung war womöglich an der Leitmotiv-Fahndung für das diesjährige Internationale Musikfest der Elbphilharmonie beteiligt gewesen, das ungebremst zu möglichst vielen Herzen allen Alters gehen will.
Das Programm des Eröffnungskonzerts jedenfalls war von dieser hehren Absicht geprägt und der kleine Festakt vorab am Freitag im Kleinen Festsaal war es erst recht: Wärmende Begrüßungsworte von Intendant Lieben-Seutter und Kultursenator Brosda zur Einstimmung. Zwei Minnesängerinnen zirpten in Mittelhochdeutsch zu Harfenbegleitung etwas Walther von der Vogelweide, umgeben von sanft schimmernden Kunstlichtkerzen. Der Lyriker Jan Wagner sinnierte als Festredner verschmitzt über semantische Deutungsversuche des (mitunter übel verminten) Themenfelds Liebe, um am Ende, was nie verkehrt ist und immer korrekt, doch wieder bei Shakespeare als dem unerreichten Meisterer aller emotionalen Liebes- und Lebenslagen zu landen.
Elbphilharmonie Musikfest: Bei aller Liebe – dieser Auftakt war nicht immer einfach
In dieser vorfreudigen, gut durchmassierten Stimmung wie kurz vor einem Kirchentags-Anpfiff begann der Konzertabend im Großen Saal mit schwer seltsamen Gedanken eines verschrobenen, weltverlorenen Einzelgängers: Hölderlins „Schicksalslied“, das der ähnlich stark melancholieanfällige Brahms vertont hatte, lag in den Notenmappen der Audi Jugendchorakademie (AJCA) und auf den Pulten der Philharmoniker. Deren Chefdirigent Kent Nagano hatte offenkundig – und sehr zu Recht – einen sweet spot für die Rarität. Er stellte diese nach Trost suchende Musik, die lieblich zart zwischen wortlosem sinfonischen Träumen und romantisch verpacktem Chorsatz changiert, als fein ausgeleuchtetes Stimmungsbildchen da, mit wohltemperierter Schwermut, in sanft aufgetragenen, eher gedeckten Farben. „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen blindlings von einer Stunde zur anderen“, mon dieu…, unverdünnten Hölderlin kann man wirklich nur mit Samthandschuhen dirigieren. Ein verletzlicher, sensibler, starker, eindringlicher Beginn. Danach wurde es vor allem gut gemeinter.
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Klassischer Kontrast und wohl auch als Wertarbeitbeleg sollte die Achte von Beethoven sein. Seine kürzeste, gern auch als leichtgewichtigste der neun Sinfonien unterschätzt, weil sie oberflächlich so viel hintergedankenfreien Humor verfeuert. In diese Sackgasse manövrierte Nagano sich und das Orchester zwar nicht, dafür aber in eine andere. „Sein“ Beethoven war schwer und ungelenkig, zu statuarisch.
Elbphilharmonie Musikfest: Fast keine Reibung, zu wenig Hitze
Ein Tonkünstler-Denkmal auf einem arg hohen, gut ausgeleuchteten Sockel, kein launiges, von spontanem Pointen-Eifer getriebenes Jonglieren mit dem wohlfeilen Material. Fast keine Reibung, also zu wenig Hitze. Sowohl die Ausformung der Streichermotive als auch die solistischen Kabinett-Täktchen der Holzbläser vernebelten sich allzu oft und klangen damit näher an Schumann, der aber erst eine Generation später kam, als am Weiterdenken von Beethovens Vor-Genie Mozart. Eine legitime Sichtweise, aber keine mit Spannung und Überraschung aufgeladene.
Neulich noch zur prestigeträchtigen Uraufführung in die New Yorker Carnegie Hall gebracht, jetzt, wieder zurück am Ausgangsort, folgte ein Kraftakt für eine mindestens sehr, wenn nicht schon zu große Besetzung: Sean Shepherds „On a Clear Day“, ein Hybrid aus Chor-Kantate mit Orchester und Sinfonischer Dichtung, die verwirrend uneindeutige Spurenelemente eines zeitgenössischen Cello-Konzerts enthält, und dazu sehr viele Botschaften zum Thema Liebe im Allgemeinen und Nächstenliebe im Besonderen. Die Hamburger Autorin Ulla Hahn hatte 2018 für eine erste Zusammenarbeit mit Nagano einen neuen Blick auf den von Schubert vertonten, leichtgewichtigen „Rosamunde“-Theaterstoff geworfen, hier war die Bedeutungs-Latte deutlich höher gehängt.
Elbphilharmonie Musikfest: Das Stück stand oft brav auf Textstellen
Hin und wieder konnte sich Shephards knapp einstündiger Zwölfakter auf interessante Weise nicht entscheiden, was es letztlich wie sehr sein wollte. Jan Voglers solistische Anteile als Cello-Virtuose blieben dabei willkürlich, entweder ergänzend oder widersprechend. Die weit ausgebreiteten Orchester-Akkordteppiche bremsten die Vertonung aus, das Stück stand oft brav und klamm auf Textstellen, anstatt Erzähltempo aufzunehmen und Hahns Gedanken-Wort-Spielereien über moralphilosophisch richtiges Tun und Lassen tatsächlich in einen regelrechten Fluss zu bekommen.
Stellenweise, wenn das Chor-Kombinat aus AJCA, „The Young ClassX“-Ensemble und einigen Mitgliedern der Alsterspatzen und der Dresdner Kreuzianer zu schweigen hatte, schimmerten im Orchesterapparat auch Erinnerungen an Messiaens Selbstverzückung durch, allerdings ohne dessen seliges Funkeln und das Ausreizen von Extremen. Genau die Art komplexer Musikproblematik, die Nagano mit seiner Routine durchaus effektiv von der Stelle und über die Ziellinie stemmen kann. Aber dennoch, bei aller Liebe, eine Auftragsarbeit, die an ihrem eigenen Wichtigkeitsanspruch arg viel zu tragen hatte.