Hamburg. Das Verbrechen an seinem Vater Jan-Philipp Reemtsma prägte den Musiker. Ein Gespräch über Traumata, Flops und Pete Doherty.

Johann Scheerer hatte sich bereits als Musiker, Musikproduzent und Gründer des Hamburger Studios Clouds Hill Recordings einen Namen gemacht, bevor er 2018 als Autor einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. In seinem Debütroman „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ schrieb er über die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma im Jahr 1996 aus der Perspektive des Sohnes, dessen Leben sich durch das Verbrechen radikal änderte.

Sein zweiter Roman „Unheimlich nah“ knüpft daran an, es ist eine Coming-of-Age-Geschichte unter schwierigen Bedingungen, eine Jugend unter Personenschutz und mit einem Trauma, das als Schatten über dem Familienleben liegt. Das Buch ist eine schonungslos offene, auch liebevolle Auseinandersetzung mit dem Vater. Dabei gelingt Scheerer das Kunststück, trotz der inhaltlichen Schwere über weite Strecken in einem originell leichten Tonfall zu schreiben und immer wieder ungeheuer komisch zu sein. Dass er auch ein versierter Performer ist, kann Johann Scheerer am Montag zeigen, wenn er um 20 Uhr„Unheimlich nah“ im Hafenklang präsentiert. Wir haben ihn zu seinem Roman und den Hintergründen befragt.

Sie beschreiben Ihren Vater als Menschen, der mit und in Büchern lebt, während Sie sich stets distanziert zu dieser Welt des Lesens und Schreibens verhalten haben. Paradoxerweise setzen Sie sich aber jetzt zum zweiten Mal ausgerechnet literarisch tiefergehend mit ihrem Vater auseinander …

Johann Scheerer: Es klingt tatsächlich wie ein guter Witz, dass ich das in Buchform mache. Ich empfinde das als großen, lang angelegten Familien-Gag.

Sie teilen mit Ihren Lesern sehr persönliche und auch private Einsichten, was für Sie und auch für Ihren Vater oft nicht gerade schmeichelhaft ist. Haben Sie vor der Veröffentlichung mit ihm darüber gesprochen?

Scheerer: Ich habe meinen Eltern den Text vorab zum Lesen gegeben. Es gab keine Einwände. Für meinen Vater hat Literatur einen hohen Stellenwert. Er käme niemals auf die Idee, zumindest bei mir nicht, etwas inhaltlich zu kritisieren. Und er hat ein so stabiles Ego, dass er es aushält, dass man auf diese Art und Weise über ihn schreibt.

„Unheimlich nah“ ist ein Entwicklungsroman, in dem auch Ihr Verhältnis zum Vater im Fokus steht – das alles unter den sehr speziellen Bedingungen eines familiären Lebens, in dem die Entführung des Vaters immer präsent war, schon durch die Sicherheitsvorkehrungen. Sie nutzen dafür ein sehr markantes Bild, indem Sie schreiben, dass die Scheine des Lösegelds von 30 Millionen Mark unsichtbar markiert werden sollten, um den Entführern auf die Spur zu kommen – und dass es Ihrem Vater später so vorkam, als habe seine Familie damals auch eine heimliche Markierung bekommen, die sie für immer als Opfer dieses Verbrechens identifizierbar machen würde …

Scheerer: Es war mir wichtig, das Trauma deutlich zu machen. Es gibt aktuell einen Hype um True Crime-Podcasts und -Fernsehsendungen. Die geben einem das Gefühl, das Verbrechen endet, sobald die Täter gefasst sind. Aber was danach passiert, was es an Nachwirkungen bei den Opfern gibt und dass das Verbrechen selbst weiterwirkt, das bleibt komplett unterbelichtet. Deshalb fand ich es wichtig, familiäre Dynamiken deutlich zu machen. Ehrlichkeit war eine wichtige Voraussetzung dafür, über meine Probleme und Ängste zu sprechen, ebenso wie über die Folgen der Entführung für meinen Vater.

Wie haben Sie die Bewältigung in Ihrer Familie empfunden?

Scheerer: Das große Schweigen, das unsere Familie über 25 Jahre kultiviert hat, hat dem ganzen noch mehr Mythos gegeben. Und das wurde auf die Dauer anstrengend.

Hat das Buch Ihres Vaters, „Im Keller“, das 1997 erschien, im Jahr nach seiner Entführung, nicht bei der Aufarbeitung geholfen?

Scheerer: Ich habe „Im Keller“ zum Zeitpunkt seines Erscheinens als sehr kontrolliertes Buch wahrgenommen. Es hat mich also nicht so nah herangelassen. Natürlich war das auch gar nicht der Sinn des Buches, die Entfremdung ist sein Stilmittel. Das hat natürlich seine literarische und persönliche Berechtigung, und es ist eine Wahnsinnsleistung, das so schnell geschrieben zu haben. Dieser reflektierte Umgang mit seiner Entführung war für sich richtig und wichtig, aber er löst bestimmte Probleme für mich nicht. Auch wenn es profan ist zu sagen: Wäre diese Entführung nicht passiert, dann wäre unser Leben anders verlaufen — der Nachname meines Vaters würde mit etwas anderem assoziiert. Diese Entführung mit ihren öffentlich verbreiteten Superlativen brachte mit sich, dass auch der Umgang mit anderen Menschen schwierig war, weil diese Geld- und Verbrechensassoziationen in den Köpfen aufquellen.

Manche Situationen, die Sie beschreiben, wirken sehr ehrlich, nicht selten schonungslos gegenüber sich selbst, weil sie Peinlichkeiten offenbaren. War diese Offenheit nötig?

Scheerer: Es geht nicht anders. Ich arbeite hier im Studio jeden Tag mit Bands, mit Musikerinnen und Musikern, und ich sage denen seit 20 Jahren, ihr müsst dorthin gehen, wo es wehtut, sonst hat es keine Relevanz und interessiert mich auch nicht. Das bringt nicht immer kommerziellen Erfolg, aber es garantiert einen gewissen Seelenfrieden. Wenn ich ein Buch geschrieben hätte, das den Blick auf mich ausklammert, wäre ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht worden. Es gibt keinen anderen Weg als dorthin zu gehen, wo es wehtut – und wenn ich das vorlese, ist es manchmal auch peinlich, aber das gehört dazu.

Hat Ihr Buch bei der Bewältigung geholfen?

Scheerer: Es ist gut, darauf verweisen zu können. Mir gefällt auch, dass meine Lesungen immer mit Publikumsgesprächen verbunden sind, damit habe ich durchweg gute Erfahrungen gemacht. Es gibt immer schlaue und weniger schlaue Fragen – beide sind für mich interessant. Es bereitet mir große Freude, ins Gespräch zu kommen, gerade bei den vermeintlich dummen Fragen. Denn dabei werden oft Dinge angesprochen, die viele Menschen im Umgang mit mir im Kopf haben, die sie sich aber selten auszusprechen trauen.

Ich erinnere mich an eine Lesung in Mecklenburg-Vorpommern, ein Super-Abend, als ein Zuhörer danach auf mich zukam und mir unverblümt sagte: „Sie haben mich echt überrascht. Ich dachte, sie seien ein reicher Schnösel, jetzt bin ich aber total beeindruckt.“ Eigentlich eine Frechheit, aber auch ehrlich und aufschlussreich, denn normalerweise geschieht so etwas hinter meinem Rücken. Solche Vorurteile sind nicht selten bei Leuten, die mich und meine Lebensumstände überhaupt nicht kennen. Ich bin dankbar für jede offene Beschimpfung.

Trotz der Aufrichtigkeit des Autors sollte man aber nicht den Fehler machen, dem Ich-Erzähler und seiner Geschichte eins zu eins zu glauben, oder?

Scheerer: Es geht nicht darum, akkurat wiederzugeben, was zu welchem Zeitpunkt mit welchen Menschen passiert ist, sondern der Wahrhaftigkeit der Gefühle treu zu bleiben. Ich folge hier dem Motto von Matthias Brandt in „Raumpatrouille“: „Alles, was in diesem Buch steht, ist wahr, einiges hat stattgefunden, einiges, was stattgefunden hat, habe ich erlebt.“ Auch wenn ich im Text nicht quasi dokumentarisch versuche, Wirklichkeit abzubilden, steht dahinter ein großer Wahrheitsanspruch.

Wichtig für Ihre Entwicklung war schon früh die Musik. Gibt es gewissermaßen einen Soundtrack Ihres Lebens?

Scheerer: Die Ärzte haben mich zum aktiven Musikhören gebracht und begleiten mich bis heute – gerade war Bela B. für Schlagzeugaufnahmen bei mir im Studio. Die Ärzte mögen in Musikerkreisen nicht die coolste Referenz sein, aber ich habe eine große sentimentale Verbundenheit zu ihnen. Ich mag ihre in Punkrock verpackte Selbstironie. Sie haben ab einem gewissen Zeitpunkt viel Gegenwind bekommen, ihnen wurde zu viel Kommerzialität vorgeworfen. Es hieß, die sind so superreich und tun so, als hätten sie die gleiche widerständige Haltung wie damals.

Ich habe nie verstanden, warum die ihren Stil hätten ändern sollen. Nur weil sie einen anderen Kontostand haben und in Stadien auftreten, sollten sie ihre alten Songs nicht mehr singen? Das sind doch die Widersprüche, mit denen wir alle leben. Auch wenn man glaubt, sich treu zu sein, ist man niemals frei davon. Der Soundtrack meines Lebens hat sich im übrigen mit meiner Arbeit als Produzent ständig erweitert und verändert.

In Ihrem Studio Clouds Hill sind vor allem internationale Musiker*innen aktiv vertreten, zum Beispiel Pete Doherty, Omar Rodríguez-López, Gallon Drunk und James Johnston oder Emma Elisabeth …

Scheerer: Ja, außerhalb der Lebensphase, die ich im Buch beschreibe, habe ich im Beruf schnell mit Bands gearbeitet, die nicht aus Deutschland kommen.

Ich vermute, dass Sie für die internationalen Partner idealerweise nur der Musiker und Produzent Johann Scheerer waren und nicht der Sohn von …

Scheerer: Tatsächlich konnte ich mit den Menschen, die von außerhalb kamen, arbeiten, ohne dass diese sehr deutsche Entführungsgeschichte stets im Hintergrund präsent gewesen wäre. Das ist mir aber erst im Nachhinein bewusst geworden, denn bei der Produktion ist alles so natürlich gewachsen, dass ich darüber nie nachgedacht habe. Das waren einfach sympathische Menschen, mit denen die Arbeit Spaß machte – ein Geben und Nehmen auf Augenhöhe, das alle Beteiligten weitergebracht hat.

Pete Doherty hat über Sie gesagt, Sie hätten ihm mit der Produktion seines Albums „Hamburg Demonstrations“ das Leben gerettet. Was meinte er damit?

Scheerer: Das weiß ich nicht, könnte es mir aber vorstellen. Ich habe über insgesamt drei Jahre in unterschiedlicher Intensität mit ihm an dem Album gearbeitet, in einer Phase seines Lebens, in der er massivst drogenabhängig war. Er hat zeitweilig hier gewohnt, bekam aber keine Unterstützung in seiner Sucht. Und ich habe immer wieder darauf bestanden, dass wir weitermachen, um nicht den Faden zu verlieren. Möglicherweise waren Grenzsetzungen neu für ihn und haben ihm geholfen.

Sie selbst haben bereits mit 17 Jahren eine Karriere als Musiker gestartet. Ihre Band „Am kahlen Aste“, die aus Schülern vom Christianeum bestand, wurde nach dem Gewinn eines nationalen Wettbewerbs zu Aufnahmen nach New York eingeladen und von Sony gut dotiert unter Vertrag genommen. Die Band sollte international unter dem Namen Score! vermarktet werden, im Jahr 2000 kamen drei Singles und ein Album heraus. 2001 war jedoch Schluss. Welche Wirkung hatte das auf Sie?

Scheerer: Ich habe nützliche Erfahrungen gemacht, wie zum Beispiel die, von einem der Majors in der Musik-Industrie erst gedroppt und dann rasch wieder aus dem Spiel genommen zu werden. Oder das Erlebnis, als Musiker in einem Riesenstudio zu sitzen und kaum Einfluss auf das zu haben, was passiert. Das waren Eindrücke, die mir bei der Arbeit mit Bands helfen, weil ich genau weiß, wie es sich nicht anfühlen soll. Als Produzent ist es mir total wichtig, einen Umgang auf Augenhöhe zu kultivieren, entspannt und zielführend miteinander zu arbeiten. Und da ist gutes Zuhören das Allerwichtigste.

Was hat Sony in ihnen gesehen?

Scheerer: Sony wollte die Welle reiten, die Echt losgetreten hatte, mit uns als einer Art „Die Ärzte“-Version von Echt. Echte handgemachte Musik von Jugendlichen, quasi eine Schülerband, die Credibility hat und auf verschiedenen Ebenen funktioniert, auch bei Bravo und Viva. Das hat nicht geklappt, unser Album ist gefloppt, und wir wurden fallengelassen.

Sollte es nicht noch ein zweites geben?

Scheerer: Als wir uns schon getrennt hatten, kam Sony mit einer neuen Idee auf uns zu. Ich ging noch zur Schule, und wir haben auf dem Pausenhof gemeinsam deren Brief gelesen und über ihren Vorschlag gelacht. Ich habe das noch nie öffentlich erzählt, das war echt komisch. Die Idee war, dass Score! als Coverband der Scorpions wieder aufersteht, wahrscheinlich mit dem fragwürdigen Wortspiel Scorepions! als Titel. Darauf haben wir dann lieber verzichtet.

In ihrem Buch beschreiben Sie, wie sie als junger Musiker zum ersten Mal in ein Studio kamen und sofort von der Technik fasziniert waren. War das eine Art Initiation?

Scheerer: Tatsächlich gab es keinen Erweckungsmoment, ich bin durch Homerecording zum Aufnehmen gekommen. Ich weiß aber sicher, dass die Geräte mit ihrer tollen Haptik mich sofort angesprochen haben. Die Affinität dazu war wohl in mir angelegt. Auch das ist ein totaler Kontrast zu meinem Vater. Er ist in stetigem Kampf mit technischen Geräten, ich dagegen versuche, das liebevoll in mein Leben zu integrieren.

Ihr Auftritt im Hafenklang ist als Lesung angekündigt. Wird Musik eine Rolle spielen?

Scheerer: Ich bringe diesmal beides zusammen. Bei Lesungen aus meinem ersten Buch war es mir extrem wichtig, meine musikalische Arbeit rauszuhalten. Schreiben und Musik sollten unabhängig voneinander sein. Erst als ich eine Anfrage vom NDR bekam, über das Buch zu reden und dabei auch Musik zu spielen, habe ich gemerkt, dass dieses strikte Trennen sinnlos war, weil beides zusammengehört und ich das auch so gelebt habe. Bei den jetzigen Veranstaltungen werde ich also versuchen, die Transition hinzubekommen.

Worum geht es bei der Musikauswahl?

Scheerer: Ich spiele einige Stücke, die ich zwischen 2005 und 2012 geschrieben habe und die im weitesten Sinne in den Themenkomplex Coming of Age passen. Das sind von mir komponierte Songs meiner Band Karamel, in denen es interessante Parallelen zu Textpassagen gibt. Der Spaß dabei ist die Doppeldeutigkeit.

Lesung im Hafenklang (Große Elbstraße 84), 9.5., 20 Uhr, 15 Euro (Vvk. 12 Euro)