Hamburg. Im neuen Album von Niels Frevert ist auch die Hamburger Stadtlandschaft herauszulesen. Seine Lieder sind lyrische Miniaturen.

Manchmal muss es schnell gehen, zum Ende hin zumindest. Also: Die Produktion von „Pseudopoesie“ hat nur sechs Wochen gedauert. So fix war der große Hamburger Songwriter Niels Frevert seit seinem Solo-Debüt im Jahr 1997 nicht mehr. Zeit ist bei Frevert, der 55 Jahre alt ist, immer eine Kategorie gewesen. Grundsätzlich hetzte der Mann aber nie, der einst mit seiner Band Nationalgalerie die Anfang der Neunzigerjahre so immens produktive Szenerie deutschsprachiger Rockmusik made in Hamburg betrat.

Er ließ sich meist Zeit. Mindestens drei Jahre zwischen zwei Alben, manchmal fünf. Einmal sogar sechs. Frevert hat sich oft rar gemacht. Er hat sich genau deswegen nie verbraucht, mag manche Schweigephase auch anteilig dem geschuldet sein, was man gemeinhin „künstlerische Krise“ zu nennen pflegt.

Niels Frevert hat wahrscheinlich Jahre über den Stücken gebrütet

Anzunehmen ist, dass Frevert über den neuen, wieder beinah durchweg formidablen Stücken Monate und Jahre gebrütet hat, ehe er sie vom Berliner Produzenten Tim Tautorat mit der seit dem meisterhaften, aus dem Jahr 2019 stammenden Vorgängerwerk „Putzlicht“ erprobten Band einspielen ließ.

Der Zartklang seines wichtigsten Albums „Du kannst mich an der Ecke rauslassen“, einem Klassiker des introspektiven, akustischen Songwritings, ist also nicht zurückgekehrt. Frevert macht wie auf „Putzlicht“ kraftvollen Rock mit Tendenz zum druckvollen Pop, Liedermacher-Kompositionen, die ins Radio drängen, aber dort weiter nie ankommen werden.

„Pseudopoesie“: Anleihen bei Phoenix

Wobei der Sound, kommt einem so vor, noch präziser geworden ist, mehr auf den Punkt: Drei Minuten Songlänge sind die neue Niels-Norm. Es sind geschmackvolle Arrangements mit Bläsern („Klappern von Geschirr“), klaviergetriebene („Tamburin“), und manchmal („Fremd in der Welt“) meint man Anleihen bei den französischen Weltpoppern Phoenix zu hören. Wer will, kann die Hamburger Stadtlandschaft mithören, wenn Frevert eher fröhlich als deprimiert von der Fremdheit singt. Diese Zeilen buchstabieren Melancholie, und sie präsentieren ein lyrisches Ich, das nicht es selbst ist: „Gefrorener Atem/Das Kratzen der Kufen/Verlassenes Stadion/Ich gleite durch die Dunkelheit/Vor mich hin/Als würde ich schweben Und ich dreh' mich und dreh' mich/Dreh' mich im Kreis/Ich dreh' Pirouetten/Auf dünnem Eis/Ich springe und springe/Einen doppelten Salcho/Lande und lande/In meinem Glitzertrikot.“

Freverts Themen – das Ich im Alltag, die Nacht, die Großstadt – schälen sich assoziativ aus seinen Liedern, die lyrische Miniaturen sind, Momentaufnahmen, keine Epen. Im Titelsong singt Frevert die Verse „In einem tristen Heile-Welt-Roman/Pseudopoet/Pseudopoesie“, eine Ellipse, deren Bedeutung sich den Hörenden unvermittelt offenbart, aber nicht explizit. So ist das oft bei Freverts Songs, ihre Message nimmt man intuitiv war.

Zwischen Ego und Hingabe an die Sache der Kunst

Was bedeutet: Der „Pseudopoet“ ist nicht Frevert, denn Frevert schreibt keine Romane. Entwarnung also, hier ist kein selbstquälerischer Dichter am Werk, der seinem Handwerk nicht mehr traut. Die vielleicht besten Verse dieses Albums, das uns gut durchs Jahr bringen wird, eh klar, sind noch mal welche aus „Fremd in der Welt“. Zwischen Ego und Hingabe für die Sache verdeutlichen sie den Sonderstatus des Künstlers, der die Fremdheit in Kauf nimmt und braucht, um seinen Job für die Allgemeinheit zu machen: „Ich singe und singe/Nachtigallgleich/Ich sing' in einem Käfig/In dem der Algorithmus nicht greift/Und ich springe und springe/Durch brennende Reifen/Und über meinen Schatten/Nur um bei euch nur zu sein“.

Die Persona als Künstler ist nicht bei jedem Künstler vollständig identisch mit der sozialen Figur, die er sonst darstellt. Dass bei Niels Frevert ein auch ironischer Blick auf die eigenen Rollen vorausgesetzt werden kann, verbürgt das ganz und gar fantastische „Kristallpalast“, in dem der Sieg über den Tod gefeiert wird: „Es ist so unschlagbar gut, am Leben zu bleiben/In der Weltraumfähre zum Mars“.

Es kann auch einfach das Überleben im Showbiz gemeint sein, das Frevert jetzt von mehreren Seiten schon seit so vielen Jahren kennt: „Immer nur freitags arbeiten/Immer nur Zwillinge hinter der Bar/Und ich tanze auf dem Tresen/Und singe meinen Hit aus den 90ern, wenn ihr mich lasst“. Zweieinhalb Minuten Local-Poet-Ekstase, wir sind gerne dabei. Das muss eine Single werden.

Niels Frevert: Hinwendung ans eigene Gewordensein

Wenn ein Musiker es tatsächlich schafft, mit Songs wie „Waschmachine“ (von 2008) und „Waschbeckenrand“ (von 2023) den Leuten die Poesie des Gewöhnlichen zu vermitteln, dann hat er alles richtig gemacht. Das elegische „Ende 17“ ist das Schlussstück dieses Albums, das sich in das Gesamtwerk des Künstlers fügt – als dasjenige, mit dem Frevert sich dann doch auch entschieden dem eigenen Gewordensein („Zur einen Hälfte Vorstadtpunk/Zu der anderen Goth/Und wenn man ganz genau hinschaut/Sieht man das heut noch“) zuwendet. Er ist jetzt eine ganze Strecke gegangen, aber er geht immer weiter, der Flaneur der Dunkelheit: „Blasses Spiegeln des Mondes/Kopfsteinpflaster St. Pauli Nord/Die Laternen scheinen für dich allein/Oh Nachtarbeit/Und sie leuchten nach Hause“.

Was machen wir mit „Pseudopoesie“, der wie immer dringend erwarteten neuen Songsammlung des puren Poeten Niels Frevert? Wir hören es laut, und wir verneigen uns einmal mehr.

Die „Pseudopoesie-Tour“ beginnt am 19.4. im Bremer Lagerhaus. Am 21.4. spielt Frevert in der Hamburger Markthalle.