Hamburg. Die zärtlich versponnene Kafka-Erkundung „Die acht Oktavhefte“ öffnet eine verrätselte Welt. Das Treiben ist nur intuitiv zu erfassen.

Was für einen Schriftsteller das noch unbeschriebene weiße Blatt, ist für einen Regisseur oder einen Schauspieler die nackte Bühne. Risiko, vermutlich. Bedrängnis, unter Umständen. Vor allem aber: Verheißung. Wo nichts ist, ist alles möglich. „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen“, schrieb der große Theatermann Peter Brook einst in seinem berühmten Essay „Der leere Raum“. „Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ Die Essenz.

Der Schweizer Regisseur Thom Luz lässt sein Publikum in seiner Kafka-Erkundung „Die acht Oktavhefte“ mitten hinein blicken in diesen schwarz getünchten Spiel-Raum, der ja am Deutschen Schauspielhaus besonders groß ist, besonders breit, besonders tief.

Kafka-Erkundung im Schauspielhaus – skurril, lustig, melancholisch, poetisch

Und ganz, ganz hinten, da sitzt Lars Rudolph. Ein kleiner, verletzlicher Mensch mit seiner Trompete. Vorn steht ein Klavier, Parkett und Ränge bleiben zunächst erleuchtet. Der Schauspieler beginnt zu trompeten, und es öffnet sich auch noch das rückwärtige Tor, Auftritt: die Techniker. Das Theater nämlich entzaubert sich keineswegs, indem es seine Maschinerie offenbart. Im Gegenteil. Staunend wie ein Kind blickt man auf das nun geschäftige Treiben, während der Pianist Daniele Pintaudi das Geschehen wie einen Stummfilm begleitet. Die Aufbauten, die Schattenspiele, die sich wie zufällig zu ergeben scheinen. Skurril ist das, lustig, melancholisch, poetisch.

Einzelne Satzfetzen und Worte, die Franz Kafka zwischen 1916 und 1918 mit Bleistift in seine unlinierten Büchlein, eben jene acht Oktavhefte, notierte, erscheinen auf der Leinwand: „Mensch. Husten.“ (Beides auch 2023 im Parkett anwesend.) Und dann zwei Sätze, in denen mehr steckt, eine Art Fährte für den Abend, der nichts gabelfertig serviert, aber alles offen legt, alles zur Verfügung stellt, auf dass man selbst beim Hinschauen, Hinhören und Hinfühlen sein Hirn und sein Herz anschmeiße: „Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen.“

Handlung? Nicht im eigentlichen Sinne

„Hä?“ fragt der Technikerchor erfrischend unverblümt, bevor es schon wieder weiter geht mit der scheinbaren Improvisation. „Bewegungslos in seinem Zimmer“ steht auf der Leinwand wie eine Regieanweisung, aber die Geschäftigkeit zeigt etwas ganz anderes. Das komplette Zimmer ist in Bewegung, es ist noch gar kein Zimmer, formt sich erst zu einem, rudimentär jedenfalls. Wände verschieben sich, ein enormes Fenster, eine Tür, fast so riesig wie bei Alice im Wunderland. Handlung? Nicht im eigentlichen Sinne.

Eher ein mäandernder, assoziativer Bewusstseinsstrom, in dem die Schauspieler ihre Sätze schmecken und die Musik wie ein widersprüchlicher Wegweiser agiert, dem Text einen Rhythmus ablauscht (Musikalische Leitung: Mathias Weibel), während man als Zuschauerin wie Wunderland-Alice sanft durch den Abend gleitet: „Und der Kern, der Kern des Kerns, das übrige, und dann noch der Rest...“

Thom Luz – der Mann, der Nebelmaschinen sammelt – versteht sich sehr genau darauf, Flüchtigkeit herzustellen, vermeintliche Vorläufigkeit, die jedoch in der Summe einen ganzen Kosmos erschaffen. Fragmente, wie Traumfetzen, die in der Nacht noch Sinn ergaben, sich bei Tagesanbruch aber immer mehr auflösen; eine Treppe, die ein Ziel andeutet, aber ins Nichts führt (Bühne: Duri Bischoff).

Regisseur Thom Luz schafft ein rätselhaftes Puzzle

Luz bleibt nah am Text, der allerdings lediglich aus Begriffen, Motiven, Zeichnungen und sehr vielen Streichungen besteht. Ein rätselhaftes Puzzle. „Was wird uns hier bereitet, was wird das, wenn es fertig ist?“ Es wird nicht fertig, soviel ist klar, dennoch ergeben sich immer wieder Momente, in denen man zueinander findet, in denen sich eine schöne Komplizenschaft entwickelt: „Eine sehr große Gesellschaft und ich kenne niemanden“, stellt Bettina Stucky fest, und blickt belustigt ins Parkett.

Immerzu werden die Schauspieler (neben Rudolph, Pianist Pintaudi und Stucky sind das auch Eva Maria Nikolaus, Jan-Peter Kampwirth und Michael Weber) unterbrochen, durch das Tuten eines großen Nebelhorns oder einfach durch eine textliche Sackgasse. „Ich möchte gern...“, beginnt Jan-Peter Kampwirth, weiter lässt ihn das Skizzenhafte nicht. Es marthalert schon sehr in dieser zärtlich versponnenen, musikalischen Inszenierung.

Das Treiben ist ausschließlich intuitiv zu erfassen

Im Mittelpunkt des ausschließlich intuitiv zu erfassenden Treibens steht und spielt und sucht Lars Rudolph, ganz und gar transparent und brüchig. Eines der schönsten Bilder des Abends ist eine Glühbirne in ihrer nahezu perfekten Schlichtheit, die vom Schnürboden hinabsinkt, schimmernd durch ein langes, schmales Ofenrohr hindurch bis in den Kaminofen hinein, der schließlich das Gesicht des Schauspielers erhellt. Aber er bleibt ein Außenseiter neben denen, die sich als „fünf Freunde“ identifizieren: „Es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde.“

Das Problem erledigt sich womöglich. Denn dieser Sechste legt sich ins Bett, während genau über ihm an einem einzigen Seil das massive, schwarzglänzende Klavier hängt und sich geradezu aufreizend bedrohlich im Scheinwerferlicht dreht. Verstörend, kaum erträglich, minutenlang. Denn direkt unter dem Seil brennt knisternd eine Kerze und schmurgelt langsam, qualmend und geräuschvoll die dünne Sicherung durch. So dass das Kopfkino auch wirklich ganze, grausame Illusionsarbeit leisten kann.

Bis zur finalen Sekunde: Die Welt, ein Theater.

„Die acht Oktavhefte“, wieder am 26.2., 16 Uhr, 4.3., 20 Uhr und 17.3., 19.30 Uhr am Deutschen Schauspielhaus, Karten gibt es online oder unter T. 248713