Hamburg. Alan Gilbert schuf mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester einen angenehm verwirrenden Abend mit Thorvaldsdottir und Abrahamsen.
Das war einer dieser angenehm verwirrenden Abende, bei dem frontale Lautstärke um der bloßen Lautstärke willen sehr fehl am Platz gewirkt hätte. Und bei dem auch die finale, packende Ruhe des Publikums als Kontrast und Fortsetzung entscheidend ist für das gemeinsam Erlebte. Im Sortiment des „Visions“-Festivals in der Elbphilharmonie war das von Alan Gilbert dirigierte NDR-Konzert mit Musik der Isländerin Anna Thorvaldsdottir und des Dänen Hans Abrahamsen eindeutig das Scandi-Noir-Programm, wolkenverhangen, melancholisch vernebelt, in sich gekehrt und fragend.
Im Einführungs-Talk mit Gilbert hatte Thorvaldsdottir noch davon gesprochen, dass es sie bei ihrer einsiedlerischen Modellier-Arbeit an einer Partitur interessiere, wo der Ton endet und wo der Klang beginnt. Diese fließenden, subtile, nie ganz zum Stillstand kommenden Bewegungen hat sie meisterhaft in ihr Orchesterstück „Catamorphosis“ eingebettet.
„Visions“-Festivals in der Elbphilharmonie mit nordischen Klängen
Mit einem leisen Raunen beginnend, verzierte sie die Ungewissheit über den nächsten Moment sparsam mit tonalen Spuren-Elementen. Obwohl dieses Porträt einer rätselhaften, einsamen Natur keinen drängend starken Puls hatte, schoben sich unablässig grazile, massive Schichten übereinander.
Thorvaldsdottir zeichnete die Reibungskanten mit chromatischen Schlieren plastisch nach, sie ließ es archaisch im Untergrund brodeln, bevor sie erschütternd todtraurige, gänzlich kitschlose Streicher-Melodielinien über diese wundersame Ebene legte. Hier wurden Sibelius’ Tongedichte weitergedacht und gleichzeitig Ligetis Gespür für Klangfarbenverläufe mit sehr eigener Handschrift fortgeschrieben.
Zauberhaft: Sopranistin Lauren Snouffer
Ganz anders und doch sehr ähnlich: Hans Abrahamsens „Let Me Tell You“, eine kühle Meditation über die Seelenqualen der Ophelia in Shakespeares „Hamlet“, ein Schwesterstück auch zu Abrahamsens „Schneekönigin“-Märchenoper. Den Ophelia-Monolog, neu collagiert und behutsam in seine Einzelteile zerlegt, zauberte die Sopranistin Lauren Snouffer in höchste Lagen und ließ die Töne schweben.
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Abrahamsen, ein Ligeti-Schüler, hatte dieses Monodram der Allessingerin Barbara Hannigan auf den Charakter geschrieben; Snouffer bewältigt diese Herausforderung, alles andere als harmlos, großartig und anrührend. Auch dieser Orchesterapparat klingt fahl und brüchig nach gefrorener Zeit. Als würde sich betäubender Schnee über diese Tragödie legen, so schlafwandelt der Gesang wie in Zeitlupe auf dünnem Eis durch die ruhige Szene. In die fällt nur ganz kurz gleißend helles Licht, bevor auch „Let Me Tell You“ mit fast Unhörbarem endete und das Publikum dem NDR-Orchester und sich selbst beim Schweigen zuhören wollte.
„Visions“-Finale: 12.2., 20 Uhr, mit dem NDR Orchester und A. Gilbert, Leila Josefowicz (Violine) und Werken von Salonen und Adams. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Aufnahme: „Let Me Tell You“ B. Hannigan, BRSO, A. Nelsons (Winter & Winter, CD ca. 22 Euro)